Xatar »Ich muss niemanden mehr davon überzeugen, dass ich ein Gangster bin.«

Xatar ist zurück! Nicht nur, dass der »Baba aller Babas« nach fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, nein, er hat auch gleich ein neues Album aufgenommen. Jan Wehn traf den Bira zum Interview und sprach mit dem Alles-oder-Nix-CEO über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

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Ortstermin in den Kölner Studioräumen von Alles oder Nix. Der Bira hat zum Interview geladen. Grund ist sein neues Album »Baba aller Babas«. Es erscheint nur wenige Monate nach seiner Entlassung aus fünfjähriger Haft, die er wegen einem spektakulären Goldraub absitzen musste. Xatar iz da, aber trägt, leider, keinen Mantel. Die Schuhe muss man beim Betreten des Studios trotzdem ausziehen – weil das eine Regel ist. Bei zuckerfreien Energy-Drinks und zusatzstofffreien Zigaretten (»Für’s gute Gewissen!«) spricht Xatar über seine Kindheit und Jugend am Brüser Berg, den Respekt für Moses Pelhams Label 3P und erzählt ausserdem, wie er einmal beinahe Dr. Dre getroffen hätte.

  • Als du fünf Jahre alt warst, sind deine Eltern mit dir aus dem Iran in den Irak geflohen. Hast du noch Erinnerungen an diese Zeit?

  • Wenn du das als Kind erlebst, ist es fast schon gewöhnlich für dich. Ich kannte ja nichts anderes. Aber ich weiß noch, wie ich, nachdem wir auf der Flucht gefasst worden sind, mit meiner Mutter und meinem Vater für drei Monate in einer großen Zelle im Gefängnis gesessen habe. Da gab es nicht mal eine Toilette und die Kacke lag einfach auf dem Boden. Das war richtig schlimm. Die hatten einfach vor, die Leute dort sterben zu lassen. Was ich damals empfunden habe, weiß ich allerdings nicht mehr. Das erste Gefühl, an das ich mich erinnere, habe ich dann nach unserer Entlassung in Bagdad verspürt. Das war ein ganz anderer Film. Ein Kurde aus Saddams Geheimdienst, der Connections nach Europa hatte, hat uns aus dem Gefängnis geholt und direkt in ein teures Hotel gebracht. Dort habe ich das erste Mal Feuerwerke gesehen und habe von ihm auch ein großes Spielzeugauto zum Hineinsetzen geschenkt bekommen. Das war sehr schön. Ich weiß noch, dass meine Eltern Probleme mit dem Gehen hatten. Denn der Boden in dem Hotel war sehr glatt und die beiden sind mit mir die Jahre davor nur im Gebirge auf Steinen gelaufen. Das war sehr gewöhnungsbedürftig für die beiden und sie mussten sich immer wieder hinsetzen.

  • Seid ihr dann von Bagdad direkt nach Bonn?

  • Nein, wir sind erst ein paar Monate in Bagdad gewesen und von dort nach Paris, wo wir ein Jahr gelebt haben. Da hatte ich meine ersten Freunde: zwei Schwarze, die auch mit mir im Asylheim gelebt haben. Dann ging es weiter nach Bonn. Der Typ, der uns damals geholt hat, war ein Diplomat, der in Paris und Bonn gewohnt hat und viele Leute aus dem Irak nach Europa holte. Er meinte dann zu meinem Vater, dass er sich in Deutschland sicher sehr wohl fühlen würde, weil man die klassische Musik hier sehr schätzen würde. Er hat uns dann mit nach Bonn genommen und wir haben das erste halbe Jahr in seinem Anwesen in einem Wald hinter dem Brüser Berg gewohnt. Dann haben meine Eltern Kontakt zu den Behörden aufgenommen und wir haben auch eine eigene Wohnung gefunden. Ich bin dann in den Kindergarten gekommen, was ganz entspannt war. Viele Kinder, Unmengen an Spielzeug – das war wie das Paradies. Ich habe da gechillt und viele meiner jetzigen Freunde kennengelernt. Viele sind auch zur ISIS gegangen, aber ein paar sind noch da. Das sind einfach meine Jungs aus dem Viertel, mit denen ich groß geworden bin.

  • Haben deine Eltern hier Fuß fassen können?

  • Das ging relativ schnell. Durch die Musik ist mein Vater direkt mit der Stadt Bonn in Kontakt gekommen und hat auch noch ein Jahr in Wien am Konservatorium für Musik studiert. Danach hat er dann nicht, wie gelernt, als Dirigent gearbeitet, sondern Auftragskompositionen geschrieben und diese dann aufgeführt – für die kurdische Community war das riesig. Meine Mutter war in der Heimat zwar Lehrerin, hat aber erst hier in Deutschland mit dem Studium begonnen. Mein Vater war nie ein Kapitalist, er hat nie viel Geld verdient, aber er konnte das machen, was er mag. Dazu kommt, dass Musik ja eine universelle Sprache ist. Er hat schnell Kontakt zu anderen Musikern geknüpft. 

  • Du hast mal gesagt, dass du von deinen Eltern die bestmögliche Erziehung, die es für dich gab, erhalten hast. Welche war das denn?

  • Jetzt, wo ich erwachsen bin, sehe ich, dass meine Eltern alles versucht haben, um mich von dem Viertel fernzuhalten – indem sie mich nicht rausgelassen und mich in möglichst vielen Vereinen angemeldet haben, damit ich den ganzen Tag nur unterwegs bin.

  • In welchen Vereinen warst Du?

  • Ich habe Basketball gespielt und war im Schwimm-Verein. Wo war ich sonst noch? Ich habe auch Karate gemacht, war in einem Malkurs und habe Klavier gespielt. Und natürlich Fußball. Meine Eltern wussten natürlich nicht, dass du im Fußballverein am Brüser Berg genau die falschen Leute kennenlernst. Außerdem war ich dann und wann natürlich trotzdem draußen unterwegs. Sogar in den Stockwerken des Hauses, in dem du wohnst, lauert die Gefahr – über dir, unter dir oder im Treppenhaus.

  • Wie fanden deine Freunde es denn eigentlich, dass du Klavier gespielt hast?

  • Die fanden es krass und gar nicht uncool. Es war eher etwas besonderes, weil sie das eben nicht gemacht haben. Und wenn doch, dann mussten sie türkische Instrumente lernen. Die wollten vielmehr, dass ich etwas für sie spiele.

  • »Der hat immer eine frische Packung da.«Auf Twitter teilen
  • Du hast auch eine gute Schule besucht – nämlich die, auf die auch die Kinder der Angestellten aus dem Bonner Verteidigungsministerium gegangen sind.

  • Genau. Nach dem Kindergarten sollte ich in die Grundschule gehen, auf die zufällig immer alle Kanaken gekommen sind. Da haben meine Eltern schon interveniert. Nach der Grundschule sollte ich auf die Realschule und eben nicht auf das Gymnasium. Aber dann kam mein Vater auf straight und hat dort im Büro rumgeschrien. Die Eltern vieler meiner Freunde haben das leider einfach zugelassen. 

  • Wann hast du denn gemerkt, dass der Brüser Berg eine Gegend ist, in der viele Leute wohnen, vor denen deine Eltern dich eigentlich gerne beschützen würden?

  • Eigentlich nie. Für mich war das ja komplette Normalität. Weil ich eben immer nur im Brüser Berg und nur selten in einem anderen Viertel war. Dass meine Eltern mich beschützen wollten, habe ich auch nie damit in Verbindung gebracht, dass sie mich vor der Kriminalität bewahren wollten – ich als Kind dachte vielmehr: »Die wollen nicht, dass ich Spaß habe.« Auch als ich älter wurde, habe ich das nie gecheckt. Man wusste immer, wer und vor allem wie jemand sein Geld krumm gemacht hat. Wenn du den ganzen Tag dort rumhängst, dann haben die Älteren halt auch vor dir ihre Sachen getickt oder versteckt und gesagt: »Ich muss eben in die Apotheke – pass‘ mal auf, dass keiner an das Gebüsch geht.«

  • Gab es denn einen Punkt, an dem du gemerkt hast, dass du mehr respektiert wirst als andere?

  • Ab dem Zeitpunkt, an dem ich mich geboxt habe – und als ich angefangen habe, Geld zu machen. Es war zwar nicht viel Geld, aber wenn du als 15-jähriger gute Klamotten trägst oder immer Zigaretten hast, war das ja schon krass. Da hieß es dann: »Der hat immer eine frische Packung da.«

  • Erinnerst du dich noch an deine erste größere Investition?

  • Ich habe mir mal eine Jacke von Joop gekauft, die 500 Mark gekostet hat. Die habe ich nur wegen dem großen Schild vorne auf der linken Brusttasche gekauft. (lacht) Die Jacke wurde übertrieben gefeiert und obwohl die krass im Arsch war, habe ich die später noch verkauft.

  • Wann hast du Dingens (Sohail Sadat, Manager von Alles oder Nix und der Bruder von SSIO, Anm. d. Verf.) kennengelernt?

  • Sohail kenne ich schon immer. Er kam zwar aus Bonn-Tannenbusch, aber ist bei uns am Brüser Berg auf die Hauptschule gegangen und hing dann immer dort herum und war viel mit dem kleinen Bruder von meinem besten Freund unterwegs. Wir haben dann immer aufgepasst, dass die Kurzen nicht zu spät nach Hause gehen.

  • Und über Sohail hast du dann auch SSIO kennengelernt. Du meintest mal in einem Interview, dass er damals, mit 12 Jahren, schon ein fertiges Album hatte, das dich sehr beeindruckt hat.

  • Ja, das war krass. SSIO hatte 1998 schon ein richtiges Album fertig, von dem ich wirklich geflashed war. Das hatte ein richtiges Konzept: Es gab acht nach vorne gehende Punchline-Songs, zwei deepe Tracks, zwei Liebessongs, einen afghanischen Song und einen für seine Mutter. Er hat die Beats komplett selbst produziert und zwischen den Songs immer Skits eingebaut. Auf einem Skit war auch Sohail zu hören, der da auf lustig die Kanakenregeln für die Straße erklärt hat. Darüber habe ich mich totgelacht. Ich wollte dann von ihm wissen, wie er die Beats baut. Bei sich zuhause, wo er sich in seinem Zimmer ein kleines Studio eingerichtet hatte, hat er mir dann gezeigt, wie er die Beats mit Reason gebastelt hat. Für mich, der damals nur Fruity Loops kannte, sah das krass kompliziert aus. SSIO hatte zu der Zeit schon ein Praktikum im Tonstudio gemacht, weil ihn das alles sehr interessiert hat. Ich habe ihn dann immer wieder getroffen und er hat mir neue Sachen von sich gezeigt, die mich jedes Mal begeistert haben. Dabei war er noch ein kleines Kind, Alter!

  • Neben dem Klavier war auch HipHop in Sachen Musik immer sehr wichtig für dich. Wirklich wahr, dass ihr euch damals zu mehreren Leuten eine CD von Dr. Dres »The Chronic« geteilt und euch sogar darum geprügelt habt?

  • (grinst) Ich habe mich nicht geprügelt – die anderen aber schon. Meine erste HipHop-CD war zwar »Murder Was The Case«, aber als »The Chronic« kam, war der Hype unglaublich groß. Und es gab eben nur diese eine CD bei mir im Freundeskreis, die immer herumgereicht wurde. Irgendwann war sie dann bei mir, aber ich habe das den anderen nicht erzählt. Als ich dann eines Tages in den Bus kam, hatten die anderen alle ein blaues Auge. Das war richtig wild – es ging ordentlich ab wegen »The Chronic«. Eines Nachts haben die sogar bei mir geklingelt und als ich dann ans Fenster bin, haben die von unten gerufen, dass ich gefälligst kommen solle. Alles nur wegen einer CD, Alter!

  • »Alles, was 3P gemacht hat, war bombe.« Auf Twitter teilen
  • War Deutschrap denn damals auch ein Thema für dich? In der »Vice«-Dokumentation konnte man in deiner CD-Sammlung ja auch Alben von den Beginnern oder Freundeskreis sehen.

  • Ich weiß nicht mehr, wann das anfing. Aber Charnell fand ich damals richtig krass. Der hat ja als Teil von Da Fource mit Meli diesen Song »Komm auf den Punkt« gemacht. Darauf bin ich gar nicht klargekommen. Als Kanake hat man deutschen Rap ja sehr lange scheiße gefunden und nur amerikanische oder französische Musik gehört. Aber Charnell war voll der Film für mich. Außerdem haben mich natürlich Kool Savas’ alte Underground-Sachen wie »LMS« geprägt – und eben Azad. Als ich »Napalm« gesehen habe, dachte ich: »Krass, jetzt gibt es das hier also auch: Kanaken, die mit Pitbulls in Videos posieren.« Ich konnte gar nicht glauben, dass ein solches Video aus Deutschland kam und wollte es jedem zeigen. Damals gab es ja noch kein YouTube. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das gemacht habe. Die anderen Sachen habe ich natürlich auch mitbekommen. Sei es jetzt Afrob oder Ferris MC. Deichkind, Alter! Die waren killer damals.

  • »Komm schon« hatte zum Beispiel ja auch einen sehr souligen Sound.

  • Mit diesem Video am Pool, ne? Übertrieben – das war ein killer Beat. Ich habe mir das alles angehört und weiß tatsächlich auch noch, dass Maestro und ich uns gegenseitig Deichkind gezeigt haben, weil uns das geflashed hat. Aber Azad war noch mal eine Spur krasser, weil der auf einmal richtig Identifikationsfläche für uns geboten hat.

  • Azad kam damals ja über 3P raus und ich…

  • Fuck, was geht mit 3P? Das war ja noch früher. Rödelheim Hartreim Projekt hat mir ein Mitschüler auf dem Gymnasium gezeigt und das war richtig krass. Wenn ich mit dem Wissen, das ich über Musik habe, auf 3P zurückblicke, muss ich wirklich sagen, dass das für die damalige Zeit wahnsinnig gut war. Alleine die Videos! Tausend Mal besser als alle Videos, die ich heute sehe. Der Sound war überragend. Und die Art und Weise zu performen erst! Alles, was 3P gemacht hat, war bombe. Außer Illmat!c vielleicht. Das hätte nicht unbedingt sein müssen. Der Costa ist ein cooler Junge – nur das mit dem Ami-Dingen… wobei, das war damals halt so. Aber auch Sabrina Setlur! Scheißegal, ob die ihre Texte selbst geschrieben hat. Eine Kanakin mit Bomberjacke, die geflowed hat und später zur Queen aufgestiegen ist. Das war bombastisch! Xavier hat zu der Zeit ja noch richtig im Hintergrund agiert. (lacht)

  • Ja, damals hieß es »Sabrina Setlur introducing Xavier Naidoo«. Auf den Platten war hinten auch immer ein »3P – Mehr Bass«-Logo platziert. Der Sound war ja sehr breit und basslastig. Irgendwie erinnert mich das, was ihr in den letzten Jahren gemacht habt, von der Liebe zum Detail an die Labelarbeit von Moses Pelham.

  • Dankeschön, das schmeichelt mir sehr. Das habe ich an Moses Pelham auch immer sehr gefeiert. Die Arrangements waren sehr durchdacht, die Adlibs wohlüberlegt. Er war seiner Zeit krass voraus. Das Album von Xavier war unfassbar soulig, aber gleichzeitig auch sehr schwer und tief. Das gab es bis dato einfach noch nicht. Mein Problem mit HipHop war immer, dass Rapper wie Ice-T mir nie musikalisch genug waren. Als dann »The Chronic« erschien und ich die ganzen Sachen von Death Row gehört, wurde es endlich melodiöser. Plötzlich hat man alte Instrumente benutzt und einen viel breiteren Sound gehabt – und das Ganze dann noch auf gangsta to the fullest.

  • Die Sachen waren wahnsinnig musikalisch, wurden selber eingespielt und man hatte noch dazu, insbesondere bei Dre, richtig scheppernde Drums.

  • Ja. Vor allem haben die Drums anders gescheppert. Bei Ice-T und den anderen klangen die Sachen immer zu hart und nach Stahl und Eisen. 

  • Das klang eben noch deutlich rockiger. Ich erinnere mich gerade daran, dass SSIO mir mal im Interview erklärt hat, was für ihn einen guten Beat ausmacht und mir von der »Kombination aus tiefem Bass, Drums und einem hohen Element, das die ganze Zeit so rhythmisch und nicht zu melodiös spielt« vorgeschwärmt. Das ist ja etwas, dass sich schon durch die Produktionen von 3P gezogen hat und auch auf allen deinen Alben erkennbar ist.

  • Ja, absolut. Bei »The Chronic« war es dann ganz anders. Davor ging es immer nur darum, hart zu rappen… und auf einmal hat man Vibes bekommen – ganz egal, ob positiv oder negativ. Das war bei »Höha, Schnella, Weita« genau so. 

  • Als du Rapper geworden bist, hat dein Vater zu dir gesagt: »Mit dem Namen, den ich dir gegeben habe, machst du das nicht.«

  • (lacht) Ja, genau das hat er gesagt. 

  • Erinnerst du dich noch an die ersten Songs? Auf YouTube kursieren Tracks mit Namen wie »Baba« oder »500 Benz«. In den Kommentaren steht, dass sich die Leute die Songs via Bluetooth auf Handys hin- und hergeschickt haben.

  • (lacht) Die Namen sagen mir tatsächlich gar nichts. Wir haben aber tatsächlich 1999 oder 2000 mit dem Aufnehmen angefangen. Aber da war natürlich auch ohne Ende Schrott dabei. Zum Glück haben wir die meisten Sachen verschwinden lassen.

  • »Ich wollte nicht auftreten, weil ich Angst hatte, dass die Leute mich für einen Kasper halten.«Auf Twitter teilen
  • 2005 bist du dann wegen einer juristischen Geschichte nach London gegangen und hast dort auch studiert. Du hast aber ja nie Abi gemacht. Wie hast du es genau an die Uni geschafft?

  • Ich hatte nur Fachabi und der Professor an der Uni meinte, dass ich für das Studium – damals noch Eventmanagement und International Economics – Abitur bräuchte. Die einzige Ausnahme bestünde dann, wenn ich industrielle Erfahrung mitbringen würde. Zu dem Zeitpunkt habe ich ein paar Partys und eine kurdische Neujahrsveranstaltung organisiert. Das habe ich ihm gezeigt und es hat scheinbar gereicht – die sind da ziemlich locker in England. (lacht) Dann habe ich mit dem Studium angefangen und nach kurzer Zeit auf Musikmanagement gewechselt.

  • Du hast neben dem Studium auch als Dolmetscher gejobbt.

  • Ja. Ich kam in London an und mein Cousin, der schon länger dort lebte, meinte, dass das in London mit der Bürokratie und den Formalitäten alles ein bisschen anders sei. Und als Dolmetscher würde man gutes Geld verdienen. Also habe ich direkt angefangen, für kurdische Flüchtlinge zu übersetzen. Ich hatte dann eine Agentin, die mich mit den Kunden connectet hat und ich bin mit denen ins Krankenhaus oder zum Anwalt gegangen. Pro Stunde gab es 40 Pfund. Natürlich habe ich nicht acht Stunden am Tag gearbeitet, sondern drei mal die Woche ein paar Stunden – aber weil ich nebenbei ja auch noch als Security gearbeitet habe, habe ich gut verdient. Damals war das mit den Jobs in London echt krass. Du konntest dir echt aussuchen, wo du anfängst.

  • Du hast ja nicht nur als Security gearbeitet, sondern mit deinem Cousin auch einen Sicherheitsdienst gegründet. Wer waren eure Kunden?

  • Diverse Clubs – aber in erster Linie Spielhallen, die man dort Casinos nennt. Da haben wir dann Leute hingestellt. Das waren keine Kampfsportler, sondern ganz normale Leute, die den Türsteherschein hatten.

  • 2007 bist du dann wieder zurück nach Bonn und hattest deinen ersten Auftritt im Bonner Brückenforum, richtig?

  • Ja, aber ich hatte absolut keinen Bock drauf. Wir waren noch zu tief in der Straße und da musste man natürlich sein Gesicht wahren. Ich wollte nicht auftreten, weil ich Angst hatte, dass die Leute mich für einen Kasper halten. Das hat nur wegen dem guten Whiskey funktioniert. (lacht)

  • Im selben Jahr habt ihr dann auch direkt das Label gegründet, oder?

  • Ja, ich wurde nach meiner Rückkehr freigesprochen und wir haben direkt losgelegt. Es gab eine Homepage, eine MySpace-Seite, Fotoshootings und wir haben das erste Video abgedreht und direkt eine Single herausgebracht – ohne, dass wir einen Vertriebsdeal hatten. Wir hatten echt noch gar keinen Plan. (lacht) 2008 habe ich dann mein erstes Album »Alles oder Nix« herausgebracht.

  • »Massiv war der erste, bei dem ein paar Kanaken neugierig wurden.«Auf Twitter teilen
  • Als das Album damals rauskam, ist mir gleich dieser selbstironische Unterton in manchen Songs aufgefallen. Im rap.de-Interview mit Staiger hast du damals von Selbstverarsche gesprochen und eben hast du auch erwähnt, dass das selbst auf dem ersten Album von SSIO immer mitgeschwungen ist. Straßenrap war ja eigentlich immer sehr ernst und nie dazu im Stande, Selbstironie an den Tag zu legen, weil es einem gleich als Schwäche ausgelegt wurde. Woher kam euer komödiantischer Einschlag?

  • Das war schon immer, überall so. Aber diejenigen, die die harte Tour durchziehen, trauen sich eben nicht, das öffentlich zu machen. Wenn man selbstsicher genug ist, kann man das machen. Wenn man weiß, wer man ist und wovon man redet, kann man sich das durchaus erlauben. Guck mal, ich komme gerade aus dem Knast. Ich bin verurteilt worden und jeder weiß das. Ich muss niemanden mehr davon überzeugen, dass ich ein Gangster bin – andere Leute müssen das vielleicht. Vielleicht liegt es auch am Rheinland und daran, dass hier eh alle ein bisschen jeck sind. Das Intro auf dem »Alles oder Nix«-Album fängt ja schon so behindert an…

  • Mit Jetset Mehmet, Arschtritt Rashid, Ramazan Kakazahn, Lars Vegas, Abdullah Habgutda, Serdar Habmehrda und Abzug Mahmud. Wie seid ihr auf diese ganzen Namen gekommen?

  • Unser Studio war damals in Kalk, neben dem Studio von Eko. Wir haben die ganze Zeit nach einem Intro gesucht und dann habe ich diesen Beat mit den Rhodes gemacht. Ich hatte dann die Idee, eine Art »Alles oder Nix«-Show zu machen, in der ein Moderator verschiedene Leute anspricht. Bei uns in Bonn ist es so, dass wir extrem kreativ in Sachen Spitznamen sind. Jeder hatte einen Spitznamen. Einer heißt zum Beispiel schon immer Rashid Schweinehaut – der wird noch heute als erwachsener Mann so gerufen! Ein anderer heißt Kakafleck, weil er so einen Fleck im Gesicht hat. Ich habe dann gemeinsam mit Maestro diese Namen zusammengesucht. Als ich einen Nachmittag alleine im Studio war, habe ich das aufgenommen. Ich habe auf Aufnahme gedrückt, bin in die Booth, wieder zurück zum Pult und wieder zurück in die Booth und habe das Stück für Stück fertig gemacht.

  • Mich hat dieses Intro und auch der Skit sehr an das Intro und das Outro von »Gefährliches Halbwissen«, dem ersten Album von Eins Zwo erinnert. Da herrscht auch eine sehr jazzige Lounge-Atmosphäre. Kennst du das?

  • Krass, echt?

  • Warte, ich zeig’s dir.

  • (Das Intro ertönt, Xatar hört konzentriert zu) 

    Krass. Das kenne ich nicht. Aber das Intro erinnert mich jetzt total an irgendeinen alten Snoop-Dogg-Track, auf dem auch jemand die ganze Zeit so quatscht. Das ist lustig.

  • Das Feedback auf »Alles oder Nix« war damals sehr gemischt. Ich habe bei meiner Recherche rückblickend erst gemerkt, wie viel Hass euch damals entgegenschlug. Wie erklärst du dir das?

  • Ich habe das überhaupt nicht wahrgenommen. Solche Dinge wie ein Publikum waren mir komplett egal, weil ich noch komplett in der Straße war und die Musik auch nur für die Straße gemacht habe. Zu der Zeit haben 90 Prozent der Leute auf der Straße sich für Straßenrap geschämt. Massiv war der erste, bei dem ein paar Kanaken neugierig wurden. Ansonsten haben nur die Ottos bei uns im Viertel Rap gehört – und selbst die haben nicht zugegeben, dass sie Bushido hören. Ich wollte eben erreichen, dass man als richtiger Gangster diese Musik hören kann. Und das hat funktioniert.

  • Songs wie »Ich will hier nicht weg« haben bei euch ja beinahe schon Legendenstatus.

  • (grinst) Der Grund für diesen Song war ja, dass jeder Straßenrapper erzählt hat, wie schlimm es in seinem Block oder seinem Viertel ist. Ich dachte mir immer nur: »Was labert ihr?« Der Song hat sehr gut funktioniert. Was in Foren los war, war mir total egal. Das hat mich nicht gejuckt.

  • »An der Art und Weise, wie Rapper sich kleiden, merkt man schnell, wer fake ist.«Auf Twitter teilen
  • In den Videos und Pressefotos zum Album warst du teilweise noch in Lederjacke mit hochgeschlagenem Kragen zu sehen. Du hast aber auch zu der Zeit schon Hemden und Anzüge getragen und dich so, rein äußerlich, von den anderen Rappern unterschieden. War dir das wichtig?

  • Klar! Guck mal: Was uns so am Straßenrap abgefuckt hat und immer noch abfuckt, war, dass Leute mit einer Welle mitgeschwommen sind. Und das war nun mal Bushido. Bushido hatte musikalisch und äußerlich seinen eigenen Style und das war cool. Aber jeder Doof hat gedacht, er müsse auch eine Cordon anziehen und die Kette über dem Oberteil tragen. Das hat uns immer angeekelt. Ich habe schon immer Hemd und Flipflops auf Leinenhose gekickt, weißt du? An der Art und Weise, wie Rapper sich kleiden, merkt man schnell, wer fake ist.

  • Bei eurem Auftritt beim Rheinkultur 2009 haben du, Samy und SSIO ja auch weiße Anzüge und Hüte getragen.

  • Die Sachen mussten wir damals noch kaufen. (grinst) Es hatte ja nicht jeder von uns einen Hut zuhause. Die haben wir dann in einem Hutladen in der Bonner Innenstadt gekauft. Den Gehstock musste ich mir auch noch besorgen. So behindert es sich auch anhört: Wenn du wirklich ein Gangster bist, dann kannst du dir so etwas auch erlauben. Guck mal, ich bin in meiner Heimatstadt aufgewachsen. Jeder Kanake dort kannte mich, weil ich viel gerissen habe. Um dort so etwas zu bringen, musst du schon eine Story haben, damit die Leute nicht plötzlich sagen: »Was geht mit ihm? Ist er schwul geworden?« So etwas geht schnell. Aber ich darf das. Ich darf im Video auch den hier machen. (hebt seine Arme an und zuckt gefühlvoll mit den Schultern) Bei anderen würde es sofort heißen: »Er ist jetzt ein Pisser!« Aber ich kann mir das erlauben.

  • Im gleichen Jahr warst du in den USA und unter anderem auch in der Playboy Mansion zu Gast. Nachdem du dort einem Model ins Gesicht geschlagen haben sollst, musstest du ins Gefängnis. Es gab damals Gerüchte, dass du, wenn dir die Festnahme nicht dazwischengekommen wäre, Dr. Dre getroffen hättest. Stimmt das?

  • Ja, das war so! Der Kontakt zu Dre kam damals über Patrick zustande, der lange bei »Berlin – Tag & Nacht« mitgespielt hat. Patrick meinte, er würde vor Ort eine Menge Leute kennen. Als wir dann unterwegs waren, hat er mir die Läden gezeigt, in denen man die großen Namen trifft. Da kamen dann einfach Jamie Foxx oder einer von den Wayans-Brüdern vorbei – und Patrick kannte die alle! Jemand, der sehr gut mit Patrick befreundet war, wollte dann von mir wissen, wen ich gern treffen würde und ich meinte dann, dass ich Dr. Dre sehr gerne mal kennenlernen würde. Das Treffen war dann für Sonntag geplant und ich bin Freitag in den Knast gekommen. Mein Cousin hat mich dann jeden Tag um 9 Uhr morgens für 15 Minuten besucht und meinte am Samstag: »Morgen ist das Treffen mit Dre, was ist jetzt?« Aber was hätte ich machen sollen? Mein Cousin hat halt gar kein Interesse an HipHop, aber ist dann mit Patrick zu dem Treffen. Und weißt du, wer noch dabei war? DJ Tomekk. Der hat doch ein Foto mit Dre – das ist an dem Tag entstanden. Die sind dann alle zusammen auf eine der beliebtesten Open-Air-Partys in L.A. gegangen und ich habe es verpasst. Richtig mies. Mein Cousin hat mich dann am nächsten Tag wieder besucht und meinte: »Dr. Dre ist ein richtiger Geizhals, ich musste die Runde bezahlen.« Der hatte richtig Abfuck auf den. (lacht) 

    Es waren auch noch andere Treffen geplant. Zum Beispiel sollten wir mit P. Diddy zu einem Kampf von Floyd Mayweather. Das kam über diesen Q (Qualid Ladraa, Anm. d. Verf.) zustande. Das ist dieser Marokkaner aus Bonn, der eine zeitlang bei »Germany’s Next Topmodel« in der Jury saß und sich dann bei Ed Hardy hochgedribbelt hat. Ich kenne den von klein auf, der kommt auch aus meinem Viertel. Q hat zu der Zeit irgendeinen Marketingscheiß für den Wodka von P. Diddy gemacht und meinte, dass er uns sehr gerne zwei Plätze neben Diddy klarmachen würden. Es war alles organisiert und wäre ein schöner Urlaub geworden. Aber alles gefickt, Bruder! (lacht)

  • 2010 kam dann der Labelsampler »AGB« heraus. Darauf war auch der Song »So Baba« mit Haftbefehl. Stimmt es, dass er bei Alles oder Nix signen sollte?

  • Ja, das war geplant. Zu der Zeit war Haftbefehl zwar schon bei Echte Musik, aber hatte noch keinen Hype. Die meisten Rapper haben sein Potential damals noch nicht gesehen. Wir haben ihn aber übelst gefeiert. Aykut war oft hier und ich habe ihn oft in Frankfurt besucht. Es war geplant, dass er ein Album bei Echte Musik macht und dann zu Alles oder Nix kommt – vor allem auch wegen den Beats. Er meinte immer: »Gib mir nur ein paar Beats und ich rasiere alles, Bruder.« Aber dann kam der Knast und ich habe gesagt: »Mach‘ dein Ding.«

  • Ist es richtig, dass Filmfirmen dir schon kurz nach der Inhaftierung angeboten haben, deine Geschichte zu verfilmen? Unter anderem habe ich gehört, die Firma, die schon »Bank Job« verfilmt hat, sei interessiert gewesen.

  • Es haben viele Firmen angefragt. (grinst)

  • Du hast dir dann recht bald ein Diktiergerät in die Zelle schmuggeln lassen und unter der Bettdecke mit den Aufnahmen an »Nr. 415« begonnen. Wie waren denn die Reaktionen der Beamten, als du dir dein eigenes Album ins Gefängnis bestellt hast?

  • Dazu kann ich leider nichts sagen, sorry.

  • In der »Vice«-Doku sieht man aber doch einen Kalender und du sagst, dass du dort »Berufliches« einträgst.

  • Ich war ja in verschiedenen Knästen. Zu der Zeit war ich in Strafhaft und in einem Knast im Rheinland, was viel lockerer als alles andere in Nordrhein-Westfalen oder Süddeutschland war. Da hatte ich gute Leute, die für mich verantwortlich waren. Die haben gesehen, dass ich Briefe vom Finanzamt bekomme und dass ich Steuern zahle. Das fanden die natürlich gut und haben angefangen, es auch als Arbeit zu sehen.

  • Wie haben deine Mitinsassen das Album denn aufgenommen?

  • Zu der Zeit, als das Album rauskam, war ich gerade in Hagen. Die anderen Häftlinge fanden das natürlich übertrieben und haben es alle gekauft. Ich weiß noch genau, wie ich mir meine CD abgeholt habe und der Beamte meinte: »Was haben Sie denn gemacht? Es sind über 100 Bestellungen eingegangen.« Bei 400 oder 500 Inhaftierten ist das ein guter Schnitt. 

  • Du hast nach deiner Entlassung in ein paar Interviews gesagt, dass du mit der Umsetzung von »Nr. 415«, auf die du ja keinen Einfluss mehr nehmen konntest, nicht ganz zufrieden warst. Was hat dich an dem Album gestört?

  • Ja, da gibt es einiges. Um das abzukürzen: Ich habe eine klare Idee davon, wie ein Album am Ende auszusehen hat. Das bedeutet, dass ich von der ersten bis zur letzten Sekunde dabei sein muss – sonst funktioniert es nicht. Mir kann es da keiner recht machen. Einige Sachen – egal ob die Auswahl der Beats oder Änderungen in den Arrangements – hätte ich gerne anders gehabt. Ein paar Fehler im Bezug auf meinen Rap waren nicht akzeptabel. Wenn du einen bestimmten Flow hast und den auf einem bestimmten Beat eingerappt hast, das Acapella dann aber auf einen Beat mit ganz anderer Rhythmik gelegt wird, dann geht der Flow in‘ Arsch und es wird sinnlos. Das ist leider ein paar Mal passiert und hat mich krass abgefuckt. Aber ich bin dennoch übertrieben glücklich, dass das Dingen überhaupt entstanden ist und man es sich anhören kann.

  • Bei meiner Recherche bin ich auf ein YouTube-Video mit dem Titel »Xatar rappt im Gefängnis Knast in Heidenheim« gestoßen. Es zeigt verwackelte Handy-Aufnahmen eines Fans, der vor der JVA steht und dich zum Rappen auffordert. Kannst du dich daran erinnern?

  • Ich dachte die ganze Zeit, dass das nicht passiert ist, weil ich mich nicht erinnern konnte. Aber das ist so gewesen, ja.

  • Warum konntest du dich nicht erinnern?

  • Weil man den Überblick verliert. Wenn du keinen Kalender hast, weißt du schnell nicht mehr, was los ist. Viele Menschen, die im Knast sitzen, verlieren viele Erinnerungen oder Namen und können Dinge zeitlich nicht mehr vernünftig einordnen.

  • Im Interview mit Rooz hast du erzählt, dass viele Häftlinge sich mit Antidepressiva behandeln lassen.

  • Ja, die bekommst du bei jeder Kleinigkeit. Wenn du zum Arzt gehst und sagst, dass du Kopfschmerzen hast, bekommst du sofort Antidepressiva verschrieben. Die beziehen dort alles auf die Psyche und machen es sich damit wirklich einfach. Viele Leute nehmen das natürlich dankend an, um ihre Kopfficks zu überbrücken. Man könnte fast glauben, dass irgendeine Firma die Gefängnisärzte schmiert. »Lass dir nichts verschreiben!« ist das Erste, was Mithäftlinge im Gefängnis zu einem sagen.

  • Anderes Thema: Was ist eigentlich aus dem angekündigten Album mit dem Titel »Re-Asozialisiert« geworden?

  • Das ist nie erschienen. Ich habe im Knast so viele Songs gemacht, dass ich locker noch eine oder zwei Platten daraus hätte machen können. Das hatte ich auch vor, aber dann hieß es, dass ich rauskommen könnte. Damit nicht ein Knast-Album von mir erscheint, wenn ich wieder in Freiheit bin, habe ich lieber gewartet. Aber dann hat es sich noch verzögert, bis ich in den offenen Vollzug gekommen bin.

  • Wie hast du denn von drinnen den Erfolg von SSIO und seinem Debütalbum »BB.U.M.SS.N« wahrgenommen?

  • Das war der Wahnsinn. Ich habe mich sehr über die Anerkennung der Leute und Instanzen gefreut. Das kannte man vorher in der Form ja noch nicht. Sohail hat mir am Telefon davon erzählt, mir per Brief Ausschnitte geschickt. Im Knast waren derartige Nachrichten immer gut.

  • »Wir haben die Leute eben darauf vorbereitet und als sie bereit waren, waren wir nicht da.«Auf Twitter teilen
  • Gab es eigentlich einen Alles-oder-Nix-Masterplan? Bei euch sind alle Künstler mittlerweile ja richtige Character.

  • So etwas braucht jeder Künstler – ganz egal, ob Image- oder Raptechnisch. Wer uns kennt, weiß, dass sich das im Lauf der Zeit entwickelt hat. Es gibt immer viele Möglichkeiten, einen Character zu gestalten – aber vieles funktioniert auch nicht. Deshalb waren wir immer sehr vorsichtig damit, in welche Richtung wir gehen. Aber es hat Gott sei Dank irgendwo so funktioniert, dass jeder so behindert bleiben kann, wie er will. (lacht)

  • Wie schon bei Aggro Berlin habt ihr sehr verschiedene Künstler mit unterschiedlichen Eigenschaften – egal ob in Sachen Look, Rapstyle, den Bewegungen oder der Art zu reden. Wie würdest du jeden Einzelnen beschreiben?

  • SSIO ist ein sehr guter Straßenrapper mit viel Humor, der trotzdem nie lächerlich wirkt, weil sein Rap dafür einfach zu durchdacht und stark ist. Er kann den primitivsten Straßendealer und den intelligentesten Germanistik-Studenten gleichermaßen zum Lachen bringen. 

    Bei Schwesta Ewa ist es ihre Story und vor allem auch das Selbstbewusstsein, das sie in ihren Lines transportiert. In Interviews merkt man das nicht so sehr, aber wenn sie so abgewichst rappt, wie sie nun mal rappt, dann schwingt da eine unglaubliche Stärke mit. Ich habe ihr ganz am Anfang gesagt, dass sie sich als Gegenüber eine andere Nutte vorstellen soll, die sie abfucken will – denn dann wird Ewa zu einem anderen Menschen. Das hat man ja zuletzt auch in der Dokumentation gesehen. Die trägt das einfach in sich. Ewa ist das Ehrlichste, was ich im Deutschrap sehe. Ihr ist scheißegal, ob sie Schwächen preisgibt oder nicht. Sie weiß, dass ihr niemand etwas kann. 

    Kalim hat es drauf, ernsthaften Straßenrap ohne groß viel Humor zu machen und ohne dass es ausgelutscht klingt – denn das ist heutzutage eine Kunst. Er hat seine ganz eigene Aussprache, seine Art zu reimen und rappt straight auf einer Spur und ohne Doppels. Ich bin richtiger Fan von ihm!

    Und ich? Das ist eine schwere Frage. Ich bin einfach ich.

  • Kalim hat mir im Interview erzählt, dass ihr ihm alle geraten habt, seinen Style noch weiterzuentwickeln, seinen Wortschatz zu erweitern und Sachen geiler zu umschreiben. Dieses Umschreiben ist ein wichtiger Faktor in eurer Stilistik, oder? Bei euch heißt Gras ganz bestimmt nicht Gras und das Auto, das man fährt, hat immer auch einen Namen.

  • Ja, das hat sich aber auch erst entwickelt. Ich habe Sachen früher noch sehr viel direkter gesagt. Mittlerweile sage ich nichts mehr einfach so gerade heraus. Das ist eine ganz einfache Entwicklung. Je mehr du dich mit deiner Arbeit beschäftigst, desto besser wirst du dann auch. Dementsprechend habe ich zu Kalim gesagt: »Du bist ein intelligenter Junge – schöpfe das Potential aus und nutze deine Fähigkeit, um die Musik noch geiler zu machen. Denk nicht, dass die Jungs auf der Straße das nicht verstehen werden.« Das war nämlich sehr lange eine große Angst von uns. Aber das Gegenteil ist der Fall.

  • Ewa hat im Rahmen ihres Albums auch oft über die Alles-oder-Nix-Qualitätskontrolle gesprochen. Wie darf ich mir die eigentlich vorstellen?

  • Die wird von den Produzenten und den Künstlern durchgeführt. Wir schicken uns alles gegenseitig noch mal hin und her. Bevor auf den Beat gerappt wird, sprechen wir noch mal über etwaige Änderungen im Arrangement. Dann werden die Songs durchgehört. Das ist ein langer Prozess, der komplett im Team durchgeführt wird. 

  • Intelligenter und eloquenter Straßenrap mit Humor und Selbstironie, der sich diverser Lehnwörter und Dialekte bedient und auf Beats gerappt wird, die an die goldenen 90er an der West- und Ostküste erinnern, war in den letzten zwei oder drei Jahren ja definitiv auf dem Vormarsch – und wurde nicht nur von euch gemacht. Hast du manchmal so etwas wie Genugtuung verspürt, weil ihr vorher schon solche Musik gemacht habt? »Ich will hier nicht weg« hätte sich meiner Meinung nach auch noch auf »Baba aller Babas« gut gemacht.

  • Ach, das wissen wir schon. Aber die Zeit war einfach noch nicht reif für diese Art von Rap. Die Leute waren noch nicht bereit. Wir haben mit dem Sound und dem Slang angefangen, weil das für uns ganz normal war. Ob die anderen Rapper das von uns haben oder nicht, ist ganz egal. Ich weiß nur, dass sich das niemand getraut hat. Massiv war der erste, der das gemacht hat. Und wir eben auch. Warum? Weil uns eh alles scheißegal war. Geld war da und wir konnten machen, was wir wollten. Es gab einige Sachen, bei denen Rapper zu mir gesagt haben: »Bruder, mach‘ das lieber nicht.« – und genau diese Rapper haben es dann später auch gemacht. Wir haben die Leute eben darauf vorbereitet – und als sie bereit waren, waren wir nicht da. 2010 bis 2012 ging gar nichts bei uns, weil ich Verhandlungen hatte und offiziell nichts machen durfte. Genau in dieser Zeit haben es dann andere Leute für sich beanspruchen können. Aber das ist für mich egal. Guck mal: Ich bin seit ein paar Monaten draußen und sitze wieder auf dem Stuhl – weißt du, was ich meine?