Ghetts »Ich bin endlich aus der Box ausgebrochen.«

Früher nannte er sich Ghetto, heute macht er Grown-Man-Grime. Nach vier Jahren ohne Album veröffentlichte Ghetts aus London im September »Ghetto Gospel: The New Testament«. Ein Interview von Carlos Steurer.

Ghetts

Schon vor zehn Jahren galt Ghetts, der damals noch Ghetto hieß, als nächste große Grime-Hoffnung auf der Insel. Bei den MOBO Awards 2008 war er neben Giggs, Chipmunk und Skepta – die noch heute zu den Protagonisten der Bewegung zählen – als »Best UK Act« nominiert. Kurz darauf versank das Genre in der internationalen Wahrnehmung und splittete sich in regionale Subgenres auf. Im September meldete sich das ehemalige Mitglied der einflussreichen Nasty Crew, nach vier Jahren Pause, mit einem der beeindruckendsten UK-Rap-Alben des Jahres zurück. »Ghetto Gospel: The New Testament« zeigt den 34-Jährigen als gereiften Grown-Man-Grime-Artist. Anfang Oktober überraschte der Ost-Londoner beim Red Bull Culture Clash in Berlin als Special Guest von Die Achse, auf deren »Angry German«-EP er auch vertreten war. ALL GOOD-Autor Carlos Steurer traf Ghetts am Tag nach dem Culture Clash in den Kreuzberger Büros seines deutschen Label-Ablegers Caroline.

  • Du bist gestern beim Culture Clash aufgetreten, bei dem es in der zweiten Runde zu einer Schlägerei kam. Hast du das schon mal auf einem Soundclash erlebt? 

  • Oh, klar! Mich hat das an die frühen Grime-Tage erinnert. Ich mag das. (lacht) Immerhin kamen keine Messer oder Schusswaffen zum Einsatz. Ein Mann sollte sich doch wehren dürfen, wenn er so beleidigt wird. Solange keiner Waffen einsetzt, finde ich das noch im Rahmen. 

  • Wie sehr war die Soundsystem- und Clash-Kultur Teil deiner Sozialisation als Rapper in England?

  • Das war mein tägliches Brot, als ich angefangen habe. Wir rappten bei den Pirate-Radio-Stationen, lange bevor wir überhaupt daran dachten, Alben zu machen oder Mixtapes rauszubringen. Diese Ego-Kämpfe und der Wettbewerb waren natürlich freundschaftlich, aber gingen manchmal auch darüber hinaus. Es ging die ganze Zeit darum, sich mit anderen MCs und Sound-systems zu messen. 

  • Stimmt es, dass die britische Funkband Jamiroquai eine deiner ersten musikalischen Erinnerungen ist? 

  • Ja, man! Mein Vater hat das 24/7 gehört. Lustig, dass du das fragst, ich hab nämlich erst gestern beim Soundclash diesen Tune gehört, den ich shazamen musste: Earth, Wind & Fire »Brazilian Rhyme« – sowas liebe ich. 

  • Bist du dann erst über Rapper aus Großbritannien auf HipHop aufmerksam geworden?  

  • Über Will Smith! (lacht) 

  • Durch »Fresh Prince of Bel-Air«? 

  • »Men in Black«! (Gelächter) Und Busta Rhymes lief die ganze Zeit im Fernsehen. Ich hab halt nur die kommerziellen Sachen mitbekommen und nichts aus dem Untergrund. An Rakim erinnere ich mich noch, und dass sehr früh ein ganz düsteres Video von ihm auf The Box [britischer TV-Sender für Musikvideos; Anm. d. Red.] gelaufen ist.

  • Was war dann der erste britische Rap, den du wahrgenommen hast?  

  • Noch bevor ich mich mit Rap beschäftigte, hab ich Garage gehört. Damit konnte ich mich einfach besser identifizieren. Der Sound, die Energie und die Geschwindigkeit passten einfach. In den späten Neunzigern war ich großer Fan von der Heartless Crew [ein Londoner Garage-Soundsystem, das sich 1992 gründete; Anm. d. Red.].

  • »Die meisten glaubten, mich genau zu kennen.« Auf Twitter teilen
  • Dein neues Album »Ghetto Gospel: The New Testament« fühlt sich künstlerisch wie ein Neuanfang an. Hast du als Songwriter über die Jahre dazugelernt? 

  • Es ist gar nicht mal, dass ich etwas dazu gelernt hätte. Aber stelle dir einfach eine Box vor, in die ich gepackt wurde. Die meisten glaubten, mich genau zu kennen. Und mir war diese Box total bewusst, auch wenn ich nicht einverstanden war, in welchem Kontext ich damit stattfand. Ich habe mich einfach nie so gesehen, wie andere mich sahen. Das musste ich aber erst begreifen. Und so konnte ich mich frei machen, meine ganze Kraft in das Songwriting stecken und neue Konzepte wagen – um endlich aus dieser Box auszubrechen! Und jetzt erreiche ich damit mehr Leute als je zuvor. Die Reaktionen sind wirklich überwältigend. Ich hatte über sechs Millionen Streams in der ersten Woche. Dass sich Menschen verschiedenen Alters und in verschiedenen Lebenslagen damit identifizieren können ist, liegt an den Real-Life-Konzepten über die ich auf dem Album spreche. Ich rappe nicht davon, mehr zu haben, oder besser zu sein, ich bin einfach nur ehrlich und erzähle aus meinem Alltag. 

  • Das Album hat wirklich Ansätze von Grown-Men-Grime. 

  • Ja, und es fühlt sich so an, als hätte das noch nie jemand gemacht. Im Grime ging es selten um das wahre Leben, Konzepte oder Politik. Aber klar, wir sind jetzt zum ersten Mal an dem Punkt, dass es Rapper gibt, die alt genug sind, diese Themen anzusprechen. Es gab lange Zeit einfach noch keine MCs über 40. 

  • Du hast vorhin den Battle-Gedanken betont, der deine Musik lange geprägt hat. Was hat dann in dir zum Umdenken geführt? 

  • Das Leben! Das war die natürlichste Veränderung, die ich je erlebt hab. Ich habe nur etwas länger gebraucht, um herauszufinden, wie ich das in meiner Musik verarbeite. Aber genau deshalb ist es ein zweiter »Ghetto Gospel«-Teil geworden. Der erste Teil war damals seiner Zeit voraus, und hat die Leute nie wirklich angesprochen. Aber die Wahrheit ist: Ich war in keinem guten Zu-stand, als ich das erste »Ghetto Gospel«-Mixtape aufgenommen hab. Diesen Sound gab es in unserer Kultur noch nicht. Und die Reaktionen haben mich einfach getroffen, ich war entmutigt. »Freedom of Speech« war dann eine direkt Reaktion darauf. Obwohl das schon ich bin auf dem Mixtape, hört man, wie ich nach Bestätigung suche. Das Feedback darauf war besser, und des-halb hielt ich daran fest. Jetzt habe ich den »Ghetto Gospel«-Vibe schon Ewigkeiten nicht mehr gespürt. Die Idee, einen zweiten Teil zu machen, hat sich erst spät entwickelt. Es fühlte sich wie-der danach an. 

  • Hast du dir damit jetzt eine eigene Lane geschaffen? 

  • Ja, genau! Deshalb hab ich auch keine Freestyles aufgenommen, um das Album zu promoten. Ich wollte nur Dinge machen, die zu der Thematik und dem Rahmen der Platte passen. Ich bin jetzt endlich an einem Punkt, an dem die Leute mich neu wahrnehmen und sich unvoreingenommen eine Meinung bilden. Keiner hat es für möglich gehalten, dass ich Songs wie »Jess Song«, »Window Pain« oder »Next Of Kin« schreiben könnte. Und jetzt, da sie es wissen, will ich nicht mehr zurück in die Box geschickt werden. (lacht) 

  • Glaubst du, dass viele Grime-Künstler diese Erfahrung machen, schnell abgestempelt zu werden?   

  • Ja, und das ist so weird, weil Grime eine eigene Kultur geworden ist. Es ist viel mehr als nur ein Musikgenre. Aber für mich ist das cool. Ich würde mich nie dagegen wehren, Grime-Künstler genannt zu werden. 

  • »Ich weiß gar nicht, warum man immer die Bestätigung aus Amerika braucht.«Auf Twitter teilen
  • Werden britische Rapper von der US-Szene noch immer unterschätzt? 

  • Auf jeden Fall! Ich bin aber cool damit. Ich weiß gar nicht, warum man immer die Bestätigung aus Amerika braucht. Versteh mich nicht falsch: Natürlich kann so ein Co-Sign ein Segen sein. Ich mach die Musik, die mein Leben betrifft und hab aufgehört, zu viel über das Feedback nachzu-denken. Wenn man sich zu viel damit beschäftigt, die Hörer zufriedenzustellen, wird die Musik Scheiße.

  • Als ein neues Subgenre hat sich in den letzten Jahre UK-Afrobeats entwickelt. Du bist in einem karibischen Haushalt aufgewachsen. Gibt es eine neue Rückbesinnung westafrika-nisch-stämmiger Künstler deiner Generation in der Diaspora? 

  • Willst du die Wahrheit? Jedes Subgenre hat immer seine Vorreiter und Nachahmer. Als Grime das erste Mal groß wurde, war auf einmal jeder ein Grime-Rapper. Es gab eine bestimmte Ästhetik, die angesagt war und kopiert wurde. Das gleiche sieht man gerade bei UK-Afrobeats, dem Go-To-Sound der Stunde. Es gibt ein paar wenige herausragende Talente – wie zum Beispiel J Hus oder Stefflon Don – die werden bleiben, wenn der Trend wieder vorbei ist. Diese Künstler werden nicht über einen Sound oder Hype definiert, und ihre Kunst wird die Zeit überdauern. Die gleiche Entwicklung sieht man genauso im amerikanischen Trap. Aber natürlich gibt es viele großartige Künstler, die ihr Ding machen und sie selbst bleiben – auch einige Grime-Künstler. 

  • Deine Single »Black Rose« befasst sich mit einer leider immer noch aktuellen Debatte, thematisiert Feminismus und Rassismus aus der Sicht deiner Tochter. Ist ihr überhaupt schon bewusst, was das bedeutet? 

  • Nein, sie musste das noch nicht erleben und kann das gar nicht wissen. In einem gewissen Alter wird es aber so weit sein, und sie wird diese Erfahrungen machen. Ich hab den Tune auch eher an ihre zukünftige Persona gerichtet. Mit dem Wissen, dass ihr das zwangsläufig passieren wird. Er wirkt aber auch als Erinnerung an mich, dass ich ihr bessere Zugänge und Chancen ermöglichen kann. Ihr Aufwachsen soll nicht so hart werden, und hoffentlich muss sie eben nicht all das durchleben, was ich durchgemacht hab.

  • »Ich muss mich nicht mehr mit anderen Rappern messen.«Auf Twitter teilen
  • Hat ihre Geburt auch deine Wahrnehmung und Haltung gegenüber Feminismus verändert? 

  • Es hat ganz viel geändert. Die Geburt hat mich sofort weich gemacht – und nachdenklich. Über ganz viel Unwichtiges mach ich mir keine Gedanken mehr. Das ist genau das, worüber wir die ganze Zeit gesprochen haben: Ich muss mich nicht mehr mit anderen Rappern messen. Ich mach einfach Musik aus tiefstem Herzen. Und behaupte auch nicht, dass die anderen das nicht auch machen. Aber im Endeffekt ist es eine Industrie, ein Business. Ich hab »Black Rose« nie geschrieben, um daraus Profit zu schlagen. Ist doch verständlich, dass die Leute eher Club-Tracks machen, wenn das ankommt und sich verkauft. Es gibt einfach nur eine Handvoll Künstler, die sich davon nicht leiten lassen. Und wenn man heute einen Song wie »Black Rose« rausbringt, kann das nach hinten losgehen. Vor einem Jahrzehnt war das noch ganz anders, damals war die Masse noch empfänglicher für Inhalte. Heute gibt es keine Blaupause dafür. 

  • Auf der anderen Seite gibt es auch klassische Conscious-Rapper wie J. Cole und Kendrick Lamar, die Stadien füllen. 

  • Aber die sind so large, dass sie als Album-Künstler funktionieren. Keiner von den beiden braucht eine Hit-Single. Kendrick und Cole sind so gut darin, Gesamtkunstwerke zu kreieren, dass man darüber hinwegsieht, ob die Single nun die Radio-Hörerschaft anspricht. Man ist so interessiert daran, die ganze Platte zu hören. Als ich die Entscheidung traf, »Black Rose« als Single auszukoppeln, ging ich damit ein großes Risiko ein. 

  • Wieso hast du es dann getan? 

  • Wegen der Box, Mann. (Gelächter) Ich hätte locker poppigere Tunes wie »London« oder »Pick Up The Phone« als Singles rausbringen können, aber ich dachte: Scheiß drauf! Ich wollte diesmal ein anderes Resultat, also musste ich es auch anders angehen. Ich bin superfroh, es gemacht zu haben. Das Video spiegelt mein wahres Leben wieder. Wie ich meine Kleine von der Schule abho-le, das ist alles echt, und gibt letztlich auch die Lebensrealität des Durchschnittbürgers wider. Aber das zeigen wir viel zu selten. Rap über Villen, Frauen und Karren verkauft sich einfach bes-ser, auch wenn der Lifestyle so weit von unserem eigenen entfernt ist.