Sibylle Berg »Grime ist Widerstand, Spaß, Hoffnung.«

Der Roman »GRM« der Schriftstellerin Sibylle Berg ist kein Buch über Grime selbst, aber HipHop-Lektüre allemal. ALL GOOD-Autor Lukas Klemp hat mit ihr gesprochen.

Sibylle Berg

Romane über Musikgenres scheitern oft an ihrem Anspruch, sowohl eingefleischten Fans als auch interessierten Neulingen eine Subkultur literarisch näherzubringen. Diese möglichst glaubhaft einzufangen, ist sicherlich kein dankbarer Job: Fans sowie Kritiker*innen schauen mit Argusaugen auf jede Referenz, auf die Korrektheit des noch so penibel Dargestellten, während das unbefangene Publikum sich mit unzähligen nerdigen Verweisen konfrontiert sieht. Sibylle Berg umgeht diese Problematik mühelos. Ihr neuer 600-seitiger Roman »GRM« ist kein Buch über Grime selbst, es handelt von jenem beunruhigenden Zustand dieser Welt, der das Genre überhaupt erst entstehen lassen konnte. In einem Großbritannien, das vom Neoliberalismus zu Tode privatisiert wurde, folgt »GRM« über Jahrzehnte vier Kindern und ihrer Rebellion gegen das, was vom Land noch übrig ist. Die Kinder zetern gegen eine Welt, die sie längst aufgegeben hat, gegen einen Staat, in dem für sie kein Platz vorgesehen ist, und gegen eine Elterngeneration, die ihr nur Überforderung, Verachtung oder Desinteresse anbieten konnte. Doch Grime hingegen, Grime hat immer zugehört.

  • Dein neuer Roman »GRM« beginnt in der britischen Kleinstadt Rochdale und erzählt von einem England in allzu naher Gegenwart, das sich durch neoliberale Politik, staatlicher Überwachung und Nationalismus in einen unmenschlichen sowie unbewohnbaren Ort gewandelt hat. Warum findet diese Geschichte ausgerechnet in England statt? Was unterscheidet das Setting von, sagen wir mal, Amerika oder Deutschland, wo sich diese Entwicklungen in Grundzügen auch abzeichnen?

  • Das Buch beginnt zu Beginn unseres Jahrtausends und spielt in einem Fast-Jetzt, klugscheißere ich ein wenig herum. England vereint zwei wunderbare Faktoren, die für die Recherche zu meinem Buch wesentlich waren, in einer brutalen Fast-Perfektion zusammen. Also perfekter als in anderen westlichen Ländern. In England hat der Neoliberalismus, den Warren Buffet vor einiger Zeit als Krieg der Reichen gegen die Armen betitelte, mit Margareth Thatcher begonnen und jetzt fast gewonnen. Ein großer Teil der Bevölkerung, es sind nahezu 20%, werden für die Erwirtschaftung des Bruttosozialproduktes nicht mehr benötigt. Sie scheinen wie ausgelagert an Orte wie Manchester Salford, Teile von Liverpool, und wie all die Orte, an denen es keine Arbeit und keine Perspektiven gibt, noch alle heißen. Die Bewohner*innen dort werden durch privatisierte – in Großbritannien ist der Traum der weitgehenden Privatisierung gesellschaftlichen Eigentums auch am deutlichsten fortgeschritten – Hilfsleistungen, Tafeln, christliche Güte und bürokratische Schikane nur noch mäßig am Leben gehalten und scheinen auf ihr Aussterben zu warten.

    Zum anderen ist die Überwachung der Bevölkerung auf einem hohen Grad der Perfektion angelangt. Ein Zustand, von dem Neoliberale anderenorts noch träumen. Die USA sind natürlich auch ein wunderbares Beispiel für alles, was auf der Welt trotz dieses angeblich wunderbaren Zeitalters der allumfassenden Verbesserung der Lebensbedingungen schief gehen kann, nur wollte ich mein Buch in einem Land spielen lassen, das uns hier im deutschsprachigen Raum näher ist. Was sozusagen wir sind. 

  • Deine jugendlichen Hauptfiguren Don, Karen, Hannah und Peter erscheinen als Humanist*innen in einer völlig korrumpierten, empathielosen Welt, die die unzähligen Generationen vor ihnen verschandelt haben. Im Laufe des Buchs und Älterwerdens rebellieren sie gegen den Überwachungsstaat, der sie umgibt, auch weil ihnen nichts anderes übrig zu bleiben scheint. Siehst du da Parallelen zum Archetyp des Grime-Künstlers?

  • Die Rebellion, das Nichtfunktionieren in Erwartungen und der Nicht-Glaube ans System zeichnet HipHop aus und Grime unterscheidet sich nicht davon. Die Musik, die eine politische Kampfansage ist, die Jugendlichen hilft, Selbstbewusstsein und Würde in beschissenen Lebenssituationen zu bewahren oder zu bekommen. Es geht im Buch und in der Musik darum, sich nicht mit dem Platz zu begnügen, der für einen bereitgestellt scheint. Nicht apathisch zu warten, sondern wütend zu werden. Energie zu bekommen, die die Voraussetzung ist, um wenigstens zu versuchen, sein Leben zu verändern. Grime war mit eines der Puzzleteile, als ich an dem Thema des Buches studierte. Ich sah den sehr alten Devlin-Track »Community Outcast«. Grime ist die Musik, die alle Jugendlichen, die ich in UK besuchte, hörten. Grime ist Widerstand, Spaß, Hoffnung. 

  • Manchmal kann man dich in Instagram-Stories erwischen, wie du im Auto Grime hörst. Welche Künstler*innen, Songs oder Musikvideos haben dich während der Recherche beeinflusst?

  • Vollkommen unzusammenhängend nenne ich mal Abra Cadabra, Ruff Sqwad, Wiley, Marger, Kozzie, Young M.A, Lady Leshurr, Stefflon Don, Bonkaz, Devlin, Lady Shocker, Lil Simz, Bugzy Malone. 

  • Statt klassische Lesungen für »GRM« abzuhalten, bist du auf Tour gegangen mit dem 14-jährigen Grime-Rapper T. Roadz aus Birmingham. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? 

  • Es war ziemlich schnell klar, dass ich auf meiner Tour, die ich ja fast immer mit Musik kombiniere, eine Grime Artist*in aus UK dabeihaben möchte. Ich habe während der dreijährigen Arbeit an dem Buch ungefähr zweitausend Grime-Videos geschaut, Lieblinge gefunden, verworfen, und kam dann über Ruff Sqwad-Videos zur Ruff Sqwad Arts Foundation. Einem sozialen Projekt, unter dem Motto »Grime Pays«, das Slix und Prince Rapid gegründet haben, um Kindern und Jugendlichen in Grime ein Zuhause zu geben, ihnen Rappen, Mixen und Videoarbeit zu lehren. In einem Video fand ich dann T.Roadz, der damals 13 war. Ich sah ihn und dachte: Treffer. Er verkörpert für mich Grime wie wenige andere. Es dauerte dann Monate und viele Gespräche, bis klar war, dass es vielleicht funktionieren könnte, denn die Grime-Szene ist wie im HipHop oft ein wenig hermetisch. Als wir den Buchtrailer in Birmingham mit Chas Appeti drehten, bin ich fast irre geworden vor Glück. Sie waren alle gekommen. Tatsache. 

  • Auf deiner Bühnenshow reichst du das Mikro wortwörtlich an Grime-Rapper weiter. »GRM« selbst erhebt die Flagge für Arme, Außenseiter*innen, Nicht-Weiße, queere Personen, Menschen mit Behinderungen, kurz Communities, deren Stimmen immer noch kaum zu hören sind. Welchen Stellenwert hatte Repräsentation beim Schreiben von »GRM«?

  • Wie eigentlich in fast allem, was ich mache, sind die Nichtangepassten, die an den Rand gedrängten, die nicht im System Funktionierenden die Menschen, die ich liebe, die ich verstehe, für die ich etwas mache. Der Rest braucht mich nicht. Den Rest brauche ich nicht. Die sogenannten Freaks – für mich eine Ehrenbezeichnung – machen meine Welt lebenswert. 

  • Ich musste über eine Stelle am Anfang des Buchs schmunzeln, in der du sehr präzise die männliche Kennerhaltung sowohl im Rap als eigentlich auch im Musikjournalismus generell zusammenfasst: »Scheinbar war für sie Grime erfunden worden. Don wusste nicht von wem, auch nicht, aus welchen Bestandteilen – das war Diskussionsstoff für junge Männer, die sich mit Fachbegriffen eine Aura von Unbesiegbarkeit verleihen konnten.« Wie denkt Grime Geschlechterfragen? Wie emanzipatorisch ist Grime selbst?

  • Geht so. Es ist wie fast überall im HipHop eher geprägt von fraternisierenden Männerbünden. Von Männern oder Jugendlichen, die anderen Männern gefallen wollen. Einzig die Inhalte der meisten Songs sind weniger sexistisch, als das oft bei deutschsprachigen Knalltüten der Fall ist. Und es gibt immerhin eine ganze Bandbreite an recht erfolgreichen weiblichen Grime-Artists. Bei dem Nachwuchs in der Ruff Sqwat Arts Foundation gibt es sehr viele junge Frauen. Ein kleiner Insta-Tipp am Rande: @Femaletalent.  

  • »GRM« widmet sich sehr ausgiebig den gesellschaftlichen Folgen des Neoliberalismus und rückt die klaffende Spanne Arm gegen Superreich in seinen Fokus. Der Grime-Kunstler Stormzy hat jüngst bei einer Brit-Awards-Performance Theresa May für die katastrophale Handhabung des Grenfell Tower-Brands verantwortlich gemacht und folgende Zeilen für BBC-Zuschauer gerappt: »Just forgot about Grenfell, you criminals, and you got the cheek to call us savages, you should do some jail time, you should pay some damages, we should burn your house down and see if you can manage this.« Wird die Klassenfrage wieder präsenter? 

  • Natürlich. Die Klassenunterschiede, die es natürlich zu jeder Zeit gab, werden ja auch wieder schärfer. Der Überbevölkerung, den mangelnden Ressourcen geschuldet, sind sie erbitterter als früher, als die herrschende Klasse den Arbeitnehmer zur Wahrung der Produktionskette benötigte. Heute fallen durch die Digitalisierung viele Arbeitsplätze weg, das macht den Kampf noch härter, denn platt gesagt, wissen die wenigen Prozent der Superreichen nicht, wozu sie die Armen noch benötigen, und ihr Widerwille für sie aufzukommen, ist wieder auf einem fast feudalistischen Niveau. Genau um diesen Konflikt geht es in dem Buch. Um die Beantwortung der Frage: Wie hängt der immer größer werdende Kapitalunterschied weltweit gerade mit dem Erstarken der Faschisten, dem Erlassen immer neuer Überwachungsgesetze, und der Idee einer Überwachungsdiktatur nach chinesischem Vorbild zusammen?

  • Dietmar Dath unterscheidet beim revolutionären Aufbegehren zwischen kalter und heißer Wut: »Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiterdenken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag.« Kalte Wut hingegen sei »der Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.« Steckt tatsächlich revolutionäres Potenzial in Grime oder verpufft es in dem bloßen Ausdruck von Rebellion?

  • Ja, wenn man das mal wüsste. In der Vergangenheit war Herrschaft – der »Herr« passt zum Dath-Zitat – immer mit Kapital verbunden. Revolutionen brachten immer eine kurzfristige Änderung der Systeme. Aber von Grime zur Revolution ist es ein weiter Weg. Allerdings herrscht selbst in libertären Kreisen gerade eine gewisse Angst vor Unruhen. Hoffen wir einfach, dass die Unzufriedenheit, die weltweit zunimmt, nicht noch mehr Zulauf in die neoliberalen Torhüter – die faschistischen Parteien – und den faschistischen Diktatoren bringt.