Calman »Es wäre nicht ehrlich, eindeutige Texte zu schreiben.«

Auf Calmans neuem Album »Kann Grad Nich« geht es um Verantwortung. Und die nimmt der Berliner Rapper und Produzent ernst. Aber das ist längst nicht alles, was ihn von anderen Mittzwanzigern aus der Hauptstadt unterscheidet. ALL GOOD-Autor Till Wilhelm hat mit ihm gesprochen.

Calman

Am S-Bahnhof Schönhauser Allee holt mich Calman ab, vor dem Interview gehen wir mit dem Hund seiner Mutter spazieren. Hier ist er aufgewachsen. Wo früher Fassaden mit Einschusslöchern aus dem zweiten Weltkrieg zu sehen waren, stehen heute Bürogebäude. Das verranzte Atelier, das dort einst im Hinterhof war, ist jetzt ein schönes Atelier. Calman hat es hier selten weggeschafft, er wohnt in Laufnähe zu seiner Mutter. Er sagt, Zugezogene kennen sich oft besser in Berlin aus als er selbst. Sein Kiez war ihm immer genug. Nicht die Stadt, sondern das Internet hat er in seiner Jugend erkundet. Jetzt liegt er auf dem Bett, schaut abwechselnd mich und die Zimmerdecke an und wir sprechen. Calmans neues Album »Kann Grad Nich« erscheint Ende August. So fordernd wie es ist, so umfangreich setzt es sich mit Verantwortung und Verantwortungslosigkeit auseinander. Also sprechen wir darüber und schweifen ab, alles hängt zusammen. Männlichkeit, Religion, Erwachsenwerden, überall müssen wir Verantwortung übernehmen.

  • Was hast du in deiner Jugend hier gemacht?

  • Ich bin direkt hier nebenan zur Schule gegangen. Ich hatte eigentlich nur Freunde, dir hier direkt gewohnt haben. Mit denen habe ich abgehangen, Nintendo gespielt, Pokemon-Karten gesammelt. Videospiele waren das Größte für mich, mit zehn Jahren habe ich entschieden, Gamedesigner zu werden. Dann war Japan sehr wichtig. Deswegen bin ich an eine Schule gegangen, an der ich Japanisch lernen konnte. In der zehnten Klasse konnte ich ein Auslandssemester machen. In Japan bin ich erst so richtig zur Musik gekommen. Meine Gastfamilie war sehr künstlerisch, da standen ein Schlagzeug und haufenweise Gitarren rum. Meine Gastmutter ist Regisseurin von experimentellen Filmen, die hatten auch ein Heimkino bei sich. In Japan habe ich mir meinen ersten Bass gekauft, ohne zu wissen, wie man spielt. Als ich zurück nach Berlin kam, habe ich in einer Punkband gespielt. Nach der Schulzeit ist diese Band auseinandergegangen. Ab dann hat es mit der Solo-Musik angefangen. 

  • »Das ist alles digitale Magie.«Auf Twitter teilen
  • Du spielst ja auch alles selbst ein. 

  • Ja, aber ich habe wenig davon klassisch gelernt. Ich kann kaum Klavier spielen, das ist alles digitale Magie. Irgendwas ausprobieren, damit rumspielen und schauen, was kleben bleibt. Samplen war nie mein Ding. Ich wusste nicht, wie das funktioniert. Ich bin auch nicht mit Platten aufgewachsen. Als ich angefangen habe, digital zu produzieren, habe ich eher meine Erfahrungen aus der Band übertragen. HipHop kannte ich nur als Hörer. Da kam dann die Angst vor Copyright-Streitigkeiten und ein gewisser Stolz, das eben selbst zu machen. Mittlerweile bin ich ein bisschen offener. Aber ich habe auch nicht die Geduld, um nach Samples zu suchen. 

  • Spielt der Stolz, etwas erschaffen zu haben, bei dir immer noch eine große Rolle?

  • Es ist unmöglich, etwas komplett Neues zu erschaffen. Ich arbeite aus Bestehendem heraus, was schon da war und verpacke das neu. Alles, was ich mache, ist so krass aus irgendwelchen Inspirationen hervorgekommen. Wenn ich eine Melodie im Kopf habe, stelle ich mir nicht die Frage, ob ich die erfunden habe. Die ist dann einfach da. Ich benutze sie, wenn ich mich danach fühle. Es ist gar nicht möglich, etwas Neues zu erschaffen. Wenn man das versucht, verkrampft man sich.

  • Mit der Idee des Schöpfertums ist ja auch der Begriff des Genies verknüpft, den du auf »Karrenschieber« verhandelst. Der Song ist eine Anklage an die allgegenwärtige Mittelmäßigkeit.

  • Die Hook ist ein Zitat von Nietzsche. Er hat mit diesem Vierzeiler die Engländer beschrieben, weniger als Volk, mehr als Archetyp. Mich hat daran interessiert, dass diese Zeilen eine Außenseiter-Position etablieren. Die schaut nicht von oben herab, sondern mit Interesse auf den »stolzen Ameisenhaufen«, wie ich sie beschreibe. Es ist eine liebevolle, bewundernde Annäherung, keine eigene Überhöhung. Ich sehe und respektiere das, stehe aber woanders. 

  • Welche Musik hat dich in deiner Kindheit beeinflusst?

  • Der stärkste Einfluss war die Musik, die meine Mutter gehört hat. Das war ein bisschen Pop, aber vor allem OutKast und Eminem. Auch sehr viel afrikanische Musik, Fela Kuti und Femi Kuti. Mit zwölf Jahren waren dann die Red Hot Chili Peppers die beste Band der Welt für mich. Deswegen wollte ich auch unbedingt Bass spielen. Meine erste feste Freundin mit 16 Jahren hat dann meinen Horizont erweitert. Da kamen Sophie Hunger, Cat Power, Radiohead. Zu der Zeit habe ich auch sehr viele CDs gekauft.

  • Warum nennst du dich eigentlich »das schnellste Spermium«? 

  • Das ist eigentlich eher ein Gag. Meine DJ kümmert sich recht viel um die Grafiken. Sie hatte das Spermium, das zu einer Eizelle schwimmt, als Logo vorgeschlagen. Es hat eine befremdliche Assoziation mit Männlichkeit, mit der ich mich kaum identifiziere, aber natürlich bin ich ein Mann. Das Spermium an sich schwimmt ja stur geradeaus und verfolgt vehement ein Ziel, ohne es zu kennen. Dem ist sein eigenes Potenzial gar nicht bewusst. Das beschreibt gut, wie ich Kunst machen muss. 

  • »Ich mache Kunst für die Sache.«Auf Twitter teilen
  • Du musst Kunst machen?

  • Ich mache Kunst nicht vorrangig für mich selbst. Ich mache Kunst für die Sache. Ich mache einen Song, weil dieser Song gemacht werden will. Das kann man natürlich aufs Ego zurückführen, weil das ja mein Drang ist. Ich habe oft das Gefühl, die Kunst hat mit mir persönlich nicht viel zu tun. Ich unterwerfe mich der Sache, die eine Dringlichkeit hat. Am wenigsten habe ich dabei eine*n Hörer*in im Kopf. Aber auch meine Agenda stelle ich hinten an. Ich versuche diese Dinge durch mich passieren zu lassen. 

  • »Kann Grad Nich« ist ein Album über Verantwortung. Hast du dir das vorgenommen oder ist dir dieses Überthema erst später aufgefallen?

  • Das war Teil des Prozesses. Ich habe den Track mit Fatoni gemacht und er hat gesagt: »Mach doch ein Album«. Das fand ich gar nicht so geil, habe aber weiterhin Songs gemacht und beobachtet, was da so passiert. Nach drei, vier Songs habe ich den roten Faden gefunden. Das Thema Verantwortung war der kleinste gemeinsame Nenner. Ich habe gemerkt, dass sich das Thema fügen wird, wenn ich da weitergehe und hatte das Vertrauen, dass ich mich gerade automatisch damit auseinandersetze. Die Fragen, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, sind Fragen, die das Leben an mich stellt. Das betrifft die Gesellschaft und meinen Platz in ihr. Das geht vom Existenzialismus bis zur Beziehungskrise.

  • Ist das ein Coming-Of-Age-Album?

  • Wenn es eines ist, dann endet es nicht mit dem Erwachsensein, sondern ist Teil eines lebenslangen Prozesses. Es geht darum, an Konflikten zu wachsen und sich selbst zu finden. Aber manche Fragen bleiben offen oder drehen sich im Kreis. Gerade Zwischenmenschliches muss immer neu ausgehandelt werden. Dieses Album beschreibt keine lineare Entwicklung. Die Verantwortung und die Auseinandersetzung mit ihr enden nie. Wo ich mir der Verantwortung bewusst bin, muss ich keine Songs schreiben. Die Songs entstehen an den Fragen, die offen bleiben. 

  • Symptomatisch dafür ist ja, dass der Opener »All Laid Out« die Utopie abzeichnet.

  • Der Song hat vermeintlich alle Antworten. Er fühlt sich aufrichtig nach dem an, was sein könnte, was auch manchmal ist. Danach geht das Chaos aber erst los.

  • »Da kommen auf einmal wieder Glaubensfragen auf.«Auf Twitter teilen
  • Bist du eigentlich religiös? 

  • Ich bin konfirmiert. Das hatte ich auch ziemlich freiwillig gemacht, um die Geschenke abzusahnen. Ich habe einen protestantischen Background, aber ich bin aus der Kirche ausgetreten. Eine Zeit lang war ich sehr anti-religiös. Mittlerweile merke ich, dass die Art und Weise, wie ich Kunst schaffe, in eine spirituelle Richtung geht. Da kommen auf einmal wieder Glaubensfragen auf. Schon alleine die Frage, ob es wichtig ist, Musik zu machen. Ich fühle mich dem fern, aber es fasziniert mich doch.

  • In der Religion gibt es die Verantwortung gegenüber Gott. 

  • Das überschneidet sich mit dem, was ich vorhin beschrieben habe. Etwas für die Sache zu machen. Wenn ich Musik mache, geht es nicht um mich und nicht um Hörer*innen, sondern um etwas Höheres, das ich nicht bestimmen kann. Es ist eine Idee. Es ist zentral, dass ich dieser übergeordneten Idee gegenüber eine Verantwortung habe. 

  • Ist Verantwortung etwas Egoistisches?

  • Verantwortung kann missbraucht werden. Ich glaube, echte Verantwortung kommt von innen. Man muss sie übernehmen, wenn man kein Sklave sein will. Das zuzulassen, ist intrinsisch etwas Selbstloses. Der Beginn von Identität ist der Beginn von Verantwortung. Verantwortung zu übernehmen, ist quasi positiver Egoismus. 

  • Hast du Angst vor Kontrollverlust? 

  • In meinem Leben insgesamt habe ich schon Angst vor Kontrollverlust. Das war stark in meiner Kindheit, als Jugendlicher habe ich mich vor allen Drogen irrational extrem gefürchtet. Angst vor Rauschzustand, davor, nicht mehr ich selbst zu sein. Das hat sich mittlerweile entspannt. Sich in die Kunst zu vertiefen und ihr eben auch zu dienen, ist ein Weg, bewusst die Kontrolle aufzugeben. In der Musik arbeite ich viel mit Zufall, drücke Knöpfe und lass irgendwas passieren.

  • »Diese Kunst hat ihren Wert, dieser Wert hat seinen Platz in der Gesellschaft.«Auf Twitter teilen
  • Dein Rap ist auch, ob er will oder nicht, ein Gegenentwurf zum Mainstream. Wie gehst du als Künstler mit Verantwortung um?

  • Mich treibt an, dass sich die Dinge, die sich für mich so dringend anfühlen, richtig und wichtig sind. Das ist vielleicht etwas engstirnig, aber davon komme ich nicht weg. Diese Kunst hat ihren Wert, dieser Wert hat seinen Platz in der Gesellschaft. Man könnte daraus ableiten, dass Künstler*innen das Recht haben, sich einzig ihrer Kunst zu widmen und die Gesellschaft das mittragen muss. Meine Kunst trifft wenige Aussagen über mich selbst, ich spreche über gesellschaftliche Themen, leite die aber aus meinem Innenleben ab. Am Ende des Tages geht es um kollektive Erfahrungen und Urerfahrungen des Menschen. 

  • Du hast vorhin eine gefühlte Sonderposition angesprochen, aus der du dein Umfeld betrachtest. Was verbindet dich überhaupt mit deinen Zeitgenossen?

  • Natürlich verbindet uns mehr, als uns unterscheidet. Die Frage ist fies, weil ich mich auf diesem Album natürlich sehr auf die Unterschiede eingeschossen habe. Wir atmen alle die gleiche Luft und leben in der gleichen Gesellschaft. Wir machen ähnliche Erfahrungen und haben verschiedene Perspektiven auf die gleichen Sachverhalte. Die Unterschiede sind der Punkt, an dem ich in Leid und Einsamkeit stürze. In den Konfliktpunkten entsteht das Bedürfnis, verstanden zu werden. 

  • Wenn alle so ähnliche Erfahrungen machen, warum sind dann die Konflikte zu präsent?

  • In meiner Kunst habe ich ein Interesse daran, zu problematisieren. Ich will mich reiben, ich will aushandeln. Dadurch gebe ich Dingen mehr Platz, die im Alltag unausgesprochen bleiben. Auf »Friss Doch Meine Schmeichelworte« formuliere ich ein Gefühl, das ich im Gespräch nie ausdrücken konnte. Unser Leben ist so getaktet, dass kein Raum für die Aufarbeitung von Konflikten entsteht.

  • Was deinen Texten oft fehlt, ist die Eindeutigkeit. Ist das nicht auch eine Ablehnung von Verantwortung?

  • Ich will gegenüber dem Gehalt der Stücke keine Kompromisse machen, deshalb sind die Texte manchmal so kryptisch. Man kann das als Flucht bezeichnen, für mich ist das eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Ambivalenz. Es wäre nicht ehrlich, eindeutige Texte zu schreiben. Die Konflikte, für die ich mich interessiere, erzwingen eine Ambiguität. Auch Ambivalenz kann ein sehr konkretes Gefühl sein. Auch mit Unentschiedenheit kann man einen verantwortungsvollen Umgang finden. Man muss gerade einen Umgang mit Fragen finden, die nicht entschieden werden können.