IVE »Ein Bewusstsein in einem menschlichen Körper, das Rap macht.«
IVE veröffentlichte 2018 seine erste EP »Frei«, kürzlich erschien sein neues Album »Anthrazit«. Ein Gespräch über Spiritualität, Okkultismus und die Suche nach der Wahrheit.

IVE ist 27 Jahre alt, kommt aus Mainz und lebt heute auf dem Land. Sein neues Album »Anthrazit« erschien am 19. Februar und ist geprägt von seinem Interesse an Philosophie, Spiritualität und seiner Gabe für Selbstbeobachtung. Noah, wie er eigentlich heißt, hat große Probleme, sich damit zu identifizieren, wie er aussieht oder was er tut. Und da fangen die Schwierigkeiten an. Wie funktioniert Rap ohne eindeutige Identität, mit dem Zweifel als einzige Wahrheit? Till Wilhelm hat versucht, den Rapper etwas besser kennenzulernen.
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2018 hast du deine erste EP veröffentlicht. Was hast du in den Jahren zuvor gemacht?
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Bevor ich angefangen habe, zu rappen, habe ich circa sieben Jahre intensiv Kampfsport gemacht. Daraus bestand mein ganzes Leben. Durch gesundheitliche Umstände hat sich mein Leben von einem auf den anderen Tag um 180 Grad gedreht. Mehrmals war ich recht direkt mit dem Tod konfrontiert. Das hat mich sehr verändert. Seitdem bin ich viel achtsamer, viel verkopfter.
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Von der vollen Körperlichkeit zur geistigen Einkehr.
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Vom Thaiboxen zum Rap. Das sind keine absoluten Gegensätze, es gibt durchaus Gemeinsamkeiten: Competition, Kampfgeist, Zielstrebigkeit. Beides verlangt viel Motivation und Disziplin.
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Auf »All« rappst du: »Ich bin der Elefant, dem man die Stoßzähne nahm.« War die Erkrankung für dich ein Machtverlust?
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Am Anfang hat sich das so angefühlt. Später habe ich mir die Macht zurückgeholt. Dadurch, dass ich mehr Kontrolle über mich selbst hatte. Der Buddhismus hat mir dabei geholfen. Ein Leitspruch: Nicht die Umstände, sondern unsere Reaktion auf sie ist entscheidend. Das habe ich mir sehr zu Herzen genommen, das gab mir Widerstandskraft.
- »Mein Körper hat sich nutzlos angefühlt.« Auf Twitter teilen
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Hängt die Schwierigkeit der Identifikation zu deinem Körper mit der Krankheit zusammen?
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Ich habe mich von meinem Körper nicht betrogen gefühlt. Aber ich dachte: »Mist, den kann ich jetzt nicht mehr gebrauchen.« Er hat sich nutzlos angefühlt. Es gab einige Erlebnisse, in denen ich außerhalb meines Körpers war. Diese außerkörperlichen Erfahrungen haben mir gezeigt, wie befreiend es ist, die Identifikation mit meinem Leib abzuschütteln. Früher war ich stolz, Kampfsportler zu sein. Heute empfinde ich mich nicht als Rapper, sondern als ein Bewusstsein in einem menschlichen Körper, das Rap macht.
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Wenn du Lust hast, erzähl doch gerne von einem außerkörperlichen Erlebnis. Ich finde das super interessant.
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Es gab eine Situation, die für mich entscheidend war. Ich saß in einem Raum und wollte meditieren. Plötzlich hat mein Herz angefangen, Probleme zu bereiten. Meine Gedanken sind abgedriftet, alles wurde schwarz. Ich fühlte mich wie in einem Tunnel. Am Ende des Tunnels bin ich im Nichts gelandet. Ich dachte: »Ich lande jetzt vor dem Urknall.« Nichts war dort, aber alles möglich. Ein kreativer Raum ohne Fragen, aber mit allen Antworten. Das Ich hat sich aufgelöst, ich habe nur noch wahrgenommen. Absoluter Stillstand. Dann kam mir der Impuls: Erleben. So habe ich zu meinem Körper zurückgefunden. Mir wurde klar, wie vergiftet mein Körper ist. Das war ein Cut. Seitdem habe ich nur noch Wasser getrunken, mich gesund ernährt. Ich halte meinen menschlichen Tempel jetzt sauber.
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Würdest du diesen Zustand gerne wieder erleben?
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Das Erlebnis ist ein besonderes, weil es einmalig ist. Wenn ich meditiere, erreiche ich aber ähnliche Zustände, tiefe Trance. Es ist immer schön, wenn das Ich verblasst. Es gab eine Zeit, in der ich regelmäßig versucht habe, außerkörperliche Zustände zu erreichen. Drei Stunden Meditation am Stück, deine Realität verändert sich. Zwei Mal hatte ich Angst, wirklich die Kontrolle zu verlieren.
- »Ich wollte eigentlich nur meine Gedanken auf Papier bringen.« Auf Twitter teilen
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Wieso hast du angefangen zu rappen?
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Ich wollte eigentlich nur meine Gedanken auf Papier bringen. Wie von selbst habe ich angefangen zu reimen. HipHop war immer ziemlich präsent in meinem Leben, das lag nahe. Mein Uropa hat auch schon Gedichte geschrieben – und war vorher ambitionierter Sportler. So etwas kann sich auch über Generationen hinweg übertragen. Ich wollte meine Ideen teilen, weil sie mir selbst krass geholfen haben. Ursprünglich wollte ich andere inspirieren. Heute geht es mir mehr um die Musik selbst, das ist kein Mittel zum Zweck.
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Der Zweifel ist ein großer Bestandteil deiner Musik. Woran zweifelst du?
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Am häufigsten zweifle ich an der Realität, an der Wahrheit. Ob’s so etwas wie richtig oder falsch gibt. Ich möchte gerne, dass es Wahrheit gibt, aber ich bezweifle es. Diese Ambivalenz zieht sich durch mein Leben. Rap dreht sich sehr viel um Identität, damit habe ich große Probleme. Wenn es keine Wahrheit gibt, kann man nur noch über den Zweifel rappen. Ich kann mir bei nichts sicher sein – das hat schon öfter dazu geführt, dass ich Rap fast aufgegeben habe.
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Auf »Zuckerguss« sagst du: »Meine Zugänge sind Krisen«. Was bedeutet das?
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Krisensituationen sind sehr intensive Lernprozesse. Durch Krisen verstehe ich mich und die Dinge um mich herum besser. Ich kann dabei meine eigenen Gefühle, mein eigenes Verhalten gut beobachten. Das hilft mir beim Schreiben. Wenn alles im Mittelstrahl läuft, fehlt die Inspiration. Dinge sind leichter zu verstehen, wenn sie zerbrechen.
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Was ist etwas, dass du dir schön redest?
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Früher habe ich mir eingeredet, jeder Schicksalsschlag hätte seine Vorteile. Ich dachte lange, meine Krankheit hätte irgendeinen guten Zweck. Heute bewerte ich Dinge viel weniger, sie sind nicht einfach gut oder schlecht. Wenn die Bewertung wegfällt, muss ich mir nichts schön reden. Ich bin viel pragmatischer geworden: Was kann ich aus meiner Situation machen?
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Bist du sehr stressanfällig?
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Ich denke schon. Aber der Alltag belastet mich nicht. Es ist schwer, mir selbst gerecht zu werden. Ich stresse mich selbst mit hohen Erwartungen. Dafür habe ich kaum Erwartungen an andere Menschen.
- »Den Karren vor den Ochsen spannen funktioniert einfach nicht.« Auf Twitter teilen
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Auf »Häuptling« rappst du, du willst keine Bücher lesen, die nur dein Weltbild bestätigen. Gab es Literatur, die dich in der Album-Entstehung begleitet hat?
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Es gab ein Buch, das ich in der Zeit gelesen habe. Es war nicht extrem wichtig, aber spannend: die Bibel. Die ein oder andere Metapher entstammt auch dieser Lektüre. Ich hatte mich zuvor wenig mit dem Christentum auseinandergesetzt. Ich bin zwar nicht sofort konvertiert, aber interessant war es. Die Zeichnungen haben mich fasziniert, ich steh auch auf Malereien in Kirchen. Das Christentum hat für mich immer etwas gruseliges. Ansonsten habe ich einige spirituelle Bücher gelesen, geschrieben von Gurus wie Yogananda, Osho oder Sadhguru. Ich finde das alles gut, will aber mein eigenes Süppchen kochen. Den Karren vor den Ochsen spannen, funktioniert einfach nicht.
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Was ist deine Faszination mit Okkultismus? Du rappst ja auch über Baphomet.
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Ich ziehe mir diese Theorien gerne rein und spiele damit. Das ist eine Inspiration für mich. Im Fall Baphomet habe ich diese Figur als Synonym für das Ego benutzt. Ich habe große Probleme mit meinem Ego. Die Zeile »Fick Baphomet, mein Geist ist nicht greifbar« schafft Distanz zwischen Seele und Ego. Das eine ist Geist, das andere Gehirn.
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Hast du dich mal verstärkt mit Satanismus beschäftigt?
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Ich hatte eine Phase in der fünften Klasse. Meine Schulzeit war unangenehm, ich wurde Punk und habe mich mit komischen Dingen beschäftigt. Ältere Mitschüler haben mich zu Satanismus und der Philosophie dahinter gebracht, damals war ich in Mainz auf dem Schloss-Gymnasium. Ich hatte auch eine Faszination mit dämonischen TV-Serien, in denen Leute geopfert wurden. Weil ich Streit mit meinem Stiefvater hatte, habe ich dann mit meinem eigenen Blut ein Pentagramm auf ein Holzbrett gemalt. Das klingt jetzt witzig, aber ich glaube, man darf diese Symbolik nicht unterschätzen. Das hat eine Auswirkung auf unsere Psyche.
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Fällt es dir leicht, über Alltägliches zu reden, wenn du unter Leuten bist?
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Es gab eine Zeit, in der mir das schwer fiel. Da habe ich auch große Teile meines alten Freundeskreis einbußen müssen. Weil die Interessen so auseinandergegangen sind. Mittlerweile kann ich wieder richtig Scheiße labern. Das geht oft nicht, wenn man regelmäßig dem Tod in die Augen sieht. Heute bin ich viel lockerer geworden.