Katmando »Die Spießigkeit der deutschen HipHop-Szene hat zu ihrem Erfolg geführt.«

Sven »Katmando« Christ hat die HipHop-Kultur in Deutschland seit ihren Anfängen miterlebt und mitgeprägt. Die Wortschöpfung »Deutschrap« geht auf seine Kappe. Ein Interview, das ALL GOOD-Autor Davide Bortot für das Buch »Könnt ihr uns hören?« geführt hat, hier exklusiv in voller Länge.

Katmando

Als ich Sven »Katmando« Christ zum ersten Mal begegnet bin, hatte ich 14 Promille und die feste Überzeugung, dass er mich nicht mag. Ein Oldschooler wie er, ein Musikfan ohne Jam-Grundausbildung wie ich – das ging damals™️ schwer zusammen. 20 Jahre später sitze ich in seiner Wohnung im Münchner Glockenbachviertel und esse Pasta mit Salsiccia und Grünkohl. Die Flasche Weißwein, sie ist offen. Katmando hat Kochbücher geschrieben und Grillwettbewerbe gewonnen. Vor allem aber hat er die HipHop-Kultur in Deutschland seit ihren Anfängen miterlebt und mitgeprägt. Zulu Nation, Krauts With Attitude, »Juice«, »Deutschrap«. Ein Gespräch.

Dieses Interview wurde geführt für »Könnt ihr uns hören? – Eine Oral History des deutschen Rap« von Jan Wehn und Davide Bortot. Das Buch erscheint am 22.02.2019 über Ullstein und kann jetzt hier vorbestellt werden. Wir veröffentlichen exklusiv die komplette, leicht redigierte Version des Gesprächs.

  • Es soll in diesem Gespräch um Deutschrap gehen – den Begriff, den du erfunden hast. Was war der erste Deutschrap, den du gehört hast?

  • Da ich aus dem Süden bin: Advanced Chemistry, ganz klar. Ich habe sie bei einer Jam in Gießen gesehen. Da hat eine Band aus Kiel gespielt, von der ich immer vergesse, wie sie hieß; natürlich eine Gießener Gang, die komplett verloren gegangen ist; und eben AC. Von Torch hatte ich schon als Writer gehört. Auf dieser Jam haben wir uns dann kennengelernt. Das war definitiv das erste mal, dass ich ernsthaften Rap in deutscher Sprache gehört habe. Allzu überraschend fand ich das aber nicht. Durch Falco und die Novelty-Sachen von Thomas Gottschalk oder Nina Hagen hatte man schon eine ungefähre Vorstellung, wie sich Rap auf Deutsch anhören könnte. Von den Hörgewohnheiten her war das also gar nicht so umwerfend. Aber dass sich jemand von uns die Mühe gemacht hat, echte Rap-Texte auf Deutsch zu schreiben und nicht einfach nur irgendwas dahin zu plappern, war eine große Errungenschaft. 

  • Du hast die HipHop-Kultur seit Beginn der achtziger Jahre miterlebt. Gab es in dieser Szene niemanden, der oder die schon früher auf Deutsch gerappt hat?

  • Nee. Entweder es waren Novelty-Geschichten oder Accidental Deutschrap – »accidental« insofern, als auf einer Hobby-Aufnahme mal jemand etwas Deutsches eingestreut hat, weil er schlicht nicht gut genug Englisch konnte. Ich wollte mal eine Compilation rausbringen, die sich mit dem Themenkomplex »G.I. Rap« befasst. Ich verstehe darunter Musik, die in Deutschland stationierte US-Soldaten oder deren Angehörige gemeinsam mit Locals aufgenommen haben – ich sage bewusst »Locals« statt »Deutsche«, denn das waren meistens Türken, Jugoslawen und Griechen. Solche Aufnahmen gab es vor allem im Frankfurter oder Nürnberger Raum. Die klangen meistens grauenhaft, aber man stand sich da erstaunlich gleichberechtigt gegenüber. Und es war durchaus mal etwas auf Deutsch dabei. Trotzdem: Da jetzt vom ersten Deutschrap zu sprechen, wäre zu nerdig.

  • »Wenn man Rapper aus Deutschland auf Englisch rappen hörte, war immer eine leichte Grusel-Gänsehaut dabei.« Auf Twitter teilen
  • Wen zählst du neben AC noch zur ersten Generation deutschsprachiger Rap-Acts?

  • Die Rude Poets natürlich. In Hamburg, Kiel und Düsseldorf gab es auch früh Gruppen, die auf Deutsch gerappt haben. Berlin dagegen war eher englischsprachig. Die haben wirklich sehr lange gebraucht, um den Twist ins Deutsche zu schaffen – vielleicht weil sie eh schon immer multilingual unterwegs waren und sich diese Frage gar nicht so stellte… Aber durch das Deutsche war man plötzlich viel näher dran. Wenn man Rapper aus Deutschland auf Englisch rappen hörte, war immer eine leichte Grusel-Gänsehaut dabei. Das hatte was von der ersten Scorpions-LP (lacht). Auch auf »Krauts With Attitude« ist wirklich ganz finsteres Material. Der Schwenk auf die deutsche Sprache hat dem ganzen den Fremdscham-Faktor genommen und es viel bezugsfähiger gemacht.

  • Die Fantastischen Vier nennst du nicht?

  • Die zählten nicht. 

  • Warum zählten die nicht?

  • Um das klarzustellen: Die Fantas sind Freunde. Die sind damals mit uns rumgehangen. Tom Novy war gut mit Bär befreundet, als der noch seinen Plattenladen in Stuttgart hatte. Bär war mit den Jungs in München, vermutlich um irgendeinen Deal einzusacken. Da haben meine Crew und ich die Fantas kennengelernt und erste Sachen gehört – das war lange, bevor irgendwas veröffentlicht war. In meiner ideologischen Verbohrtheit habe ich sie aber nie als Rapper gesehen. Die Fantas hatten ein großes Manko: In diesem Testosteron-geladenen Gebilde der deutschen HipHop-Ursuppe hatten sie zu viel Selbstironie. Sie haben sich gar nicht die Chance gegeben, ernst genommen zu werden – weil sie sich selbst nicht ernst genommen haben. Das waren einfach vier Freunde, die als Band zusammengefunden hatten. Man hat ihnen angesehen, dass sie das machen, weil sie da gerade Bock drauf hatten. Für uns dagegen war HipHop eine Lebensaufgabe.  

  • Du warst vorhin »Krauts With Attitude« erwähnt. Die Compilation, an der du auch mitgearbeitet hast, gilt als erste deutsche Rap-Compilation. Wie kam das?

  • Reinboth kam mit der Idee auf mich zu, weil wir als Münchner eh in engem Kontakt waren. Ich habe gleich (den späteren Juice-Chefredakteur) Chris Maruhn mit dazu geholt, weil er mit dem Fanzine »In Full Effect« schon gute Arbeit machte. Der Sampler sollte ursprünglich auch In Full Effect heißen. Nach einer durchzechten Nacht auf der Popkomm mit Oliver von Felbert und Co. kam Michael Reinboth dann aber zurück und meinte: Das Ding heißt jetzt »Krauts With Attitude« – super, oder? Und wir so: Nein, ist nicht super! Dann hat er auch noch das Wort »Blackies« in die Linernotes geschrieben. Herrlich, hihi. Wir waren total gepisst. Natürlich zurecht, aber an diesen Details merkt man auch, wie viele No-Gos es damals noch in der Szene gab. Eine deutsche Fahne auf dem Cover einer Compilation war undenkbar. Das war alles so mega-korrekt. Wir waren unglaubliche HipHop-Spießer!

  • Woher kam das? 

  • Wir wollten es halt richtig machen, schon weil uns sehr bewusst war, dass wir eben nicht aus der Bronx kommen. Das war eine Frage des Respekts. Letztendlich hat ja genau diese Spießigkeit und Engstirnigkeit der deutschen HipHop-Szene auch zum Erfolg geführt. In der ARTE-Doku über Graffiti sagt Futura sinngemäß: Die Deutschen haben es auf ein neues Level gebracht, weil sie es so übertrieben haben. Für uns war das keine Spielerei. Es war auch immer wieder aufs Neue überraschend, Amis auf Tour zu erleben. Viele haben, sobald sie europäischen Boden betreten hatten, erst mal geschaut, wo der nächste Puff ist, und wollten irgendwelche Drogen haben. Wir waren so: Ey, ihr seid doch Zulus? Aber die haben uns einfach weggeschoben, uns für verrückt erklärt und jemand anderen gefragt.

  • Wie wird man eigentlich als bayerischer Bub Repräsentant der Zulu Nation?

  • Indem man sehr aufmerksam die Rückseite von Plattencovern liest (grinst). Auf der »Renegades of Funk« von Afrika Bambaataa & Soulsonic Force zum Beispiel stand die erste PO Box der Zulu Nation. Natürlich hat da jeder hingeschrieben. Die wenigsten haben eine Antwort bekommen, aber manche haben über diese PO-Box tatsächlich ihren ersten Zulu-Ausweis erhalten. Das hat uns die Welt bedeutet! Wenn du mit zwölf nicht weißt, wohin mit dir, und du auf einmal die Möglichkeit kriegst, dich komplett neu zu erfinden, ist das unfassbar mächtig. Du schaffst dir diese neue Hülle, die nichts mit deinem Körperbau oder deiner Herkunft zu tun hat, und kannst diese Hülle füllen, wie du möchtest. Du suchst dir einfach einen Namen aus und sagst dann: Die Person, die diesen Namen trägt, kann dieses und jenes – und das machst du dann. Das ist, als würdest du deinen eigenen Marvel-Superhelden kreieren. Das hatte so eine Power! Deshalb war das auch alles so ernst: weil wir auf einmal mit einer neuen Identität um die Ecke kamen. Mit »Wildstyle« kam dann noch die Gebrauchsanweisung. Spätestens ab da waren alle auf dem selben Nenner. Jeder hat gesagt: Stimmt, ich mach das jetzt genau so.

  • Du bist Münchner. Der erste deutschsprachige Rapper von dort, der überregional Anerkennung bekam, war David P. Hattest du ihn von Anfang an auf dem Radar?

  • Nein. Dafür bin ich zu alt. David P. ist aus der Generation nach mir, die sich vor allem in Jugendzentren sozialisiert hat, und da war ich nicht. Für meine Generation war alles noch sehr Ami-geprägt. In München waren G.I.s. Die haben Mixtapes und Platten von zuhause mitgebracht. Dadurch war die Zeitverzögerung, mit der es die Trends aus New York zu uns schafften, vergleichsweise gering. Run DMC zum Beispiel haben 1988 in der Münchner Diskothek East Side gespielt. Die hatten gerade in Herzogenaurach ihren Adidas-Deal unterschrieben, und Adidas hat sie dann zur Sportartikelmesse ISPO nach München geschickt. Man wusste überhaupt nicht, wohin mit denen – also hat man sie eben in den »Black Music«-Club gesteckt. 

    Das war alles sauber getrennt damals: die Community-Disco in der Kaserne war für die Weißen, und die Schwarzen mussten sich was suchen. Also entstanden Spezialisten-Clubs wie das California, das Cadillac, das Rock-In oder eben das East Side. Die DJs – DJ Romeo, DJ Randy Records oder deren Ziehvater DJ Goldie – besorgten sich die Platten aus der Import-Abteilung vom WOM oder auch direkt von den G.I.s. Diese Leute waren im Grunde Figuren wie DJ Hollywood: also Club-DJs, die Black Music und damit eben auch Rap spielten. Parallel gab es noch die Graffiti-Szene, die in München immer schon sehr lebhaft und aktiv war. Diese Szenen haben sich durchaus überschnitten: Mit Ausnahme von Loomit, der immer schon seitlich gelaufen ist, hat man sich da solidarisch gezeigt. So hat man sich irgendwann natürlich wahrgenommen. 

  • »Da sind irgendwelche schmutzigen Kinder mit Dreadlocks auf der Bühne, die Punkrock machen. Warum haben die keine nagelneuen Turnschuhe an?« Auf Twitter teilen
  • Wie hast du als jemand, der einerseits durch »Wildstyle«, andererseits aber auch in Clubs und Plattenläden sozialisiert wurde, diese JUZ-Szene wahrgenommen?

  • Ich habe mir das aus einer gewissen Entfernung angesehen: Okay, ihr seid’s jetzt da, herzlich willkommen, mal schauen, was ihr so daraus macht… Zu der Zeit war jeder Wächter seiner eigenen Ideologie, aber ich war relativ entspannt. Ich habe als Auftrags-Writer gut gelebt und konnte nach Paris oder London fliegen, wann ich wollte. So hatte ich den direkten internationalen Vergleich und habe gesehen, dass sich die Kultur auch an die lokalen Realitäten anpassen und ganz eigenständig entwickeln kann. In Frankreich gab es 1990 zum Beispiel den legendären »Rapattitude!«-Sampler. Was die gemacht haben, hatte wenig mit der klassischen Bronx-Lehre zu tun. Auch in London habe ich gesehen, dass es ganz anders funktionieren kann. In Deutschland sind diese Assimilierungsversuche meines Erachtens allerdings ein bisschen komisch abgedriftet. Als ich im Jugendzentrum in der Friedrichstraße zum ersten Mal die Beginner gesehen habe, war ich auf jeden Fall irritiert. Da sind irgendwelche schmutzigen Kinder mit Dreadlocks auf der Bühne, die Punkrock machen. Warum haben die keine nagelneuen Turnschuhe an? Ich dachte mir: Vielleicht haben die sich geirrt hier… (lacht) Cora E. war auch auf dem Konzert. Die kam gerade aus Philly zurück, mit einem weiß-goldenen Adidas-Anzug und Gucci-Sweater, und stand ebenfalls ratlos da. Aber letztendlich haben die ja gute Sachen abgeliefert. Aktive Leute findet man ohnehin immer gut. 

  • Stets bemüht… 

  • (Lacht) Das meiste war halt wirklich wahnsinnig bemüht. Und wenn etwas bemüht wirkt, sinkt der Unterhaltungswert. Bei den meisten war ja jedes Lied eine Geburt. Die waren noch so wahnsinnig auf sich selbst, ihre Inhalte und ihre Technik fixiert, da fehlte jede Leichtigkeit. Außer bei den Rude Poets vielleicht: Die sind da mit rheinischer Gemütlichkeit rangegangen (lacht). Generell aber musste alles immer einen tiefen, schweren Gedanken in sich tragen. Wir Deutschen haben 60 Jahre Schuld, unsere Eltern waren scheiße, alles ist scheiße. Deutscher Rap war anfangs vor allem Erklär-Rap: Komm, ich erklär’ dir die Welt! Da die aber alle jünger waren als ich, brauchte ich das nicht. Erst Moses hat das später gelöst, durch pure Studiotechnik und die Erfahrungen, die er schon in seiner vorherigen Karriere gemacht hatte. Bei ihm hat man sofort gehört, dass da jemand weiß, was er tut, und sich Gedanken gemacht hat. Ansonsten waren es eher Ausnahmen. Cora E. „Schlüsselkind” zum Beispiel, ein grandioses Lied. So einen Song hört man ja heute noch selten.

  • Auf Deutsch rappen wurde trotzdem schnell zum Standard.

  • Ja. Aus dem simplen Grund, dass Advanced Chemistry gezeigt hat, dass es geht und wie es geht. Das war wie bei »Wildstyle«: eine Gebrauchsanweisung. Das hat es leichter gemacht, war gleichzeitig aber der Grund dafür, dass alles so konservativ belegt war. Inhaltlich war Rap in jener Zeit ja unheimlich eng, es durften nur ganz bestimmte Sachen angesprochen werden. Zudem sind Sachen gefallen, die man heute bei Pegida und der AfD hört: dass man den Medien nicht trauen kann, wir alle nur belogen werden, usw. Damals waren solche Gedanken natürlich noch links belegt und man fand das erst mal okay bis gut. Aber im Nachhinein hat mich überrascht, wie unreflektiert alles angenommen wurde. Da hat einer behauptet, ein Buch zu lesen, und die anderen haben das einfach komplett übernommen. Das ging lange so. Da hat keiner mal nachgeschlagen, ob das auch wirklich stimmt.

  • Vor diesem Hintergrund: Wie fandest du es, als zum Beispiel die Silo Nation gegen Torch gestichelt oder die Rude Poets übers Saufen gerappt haben? 

  • Mir war völlig klar, dass es diese Provokationen braucht, um den Diskurs zu erweitern. Das Leben in Deutschland ist nun mal anders als in Amerika. Wenn man eine Sekunde drüber nachgedacht hat, musste einem klar sein, dass das papageihafte Nachahmen der USA auf Dauer nicht funktionieren würde – ob das nun die Bronx-Rituale waren oder nach dem Film »Colors« auch die Gangster-Rituale.

  • Wann wurde dir zum ersten Mal bewusst, dass Deutschrap, kommerziell wie kulturell, eine Eigendynamik entwickelt?

  • Als ich das erste Mal ein Line-Up mit ausschließlich Bands aus Deutschland gesehen habe. Ich fand das zunächst durchaus zwiespältig. So Sachen wie den Namen »Die Deutsche Reimachse« fand ich ganz schlimm. Das war mir zu humoristisch und als Witz auch zu unkorrekt. Aber mir war klar, dass sich das verselbstständigen würde. Als zum ersten Mal über 1.000 Leute auf einer Veranstaltung waren, wusste ich: Das ist es! Damals auf der Jam in Gießen, da waren ja 300 Leute, und das war die ganze Szene… Auch ins berühmte Schwimmbad in Heidelberg passten nicht mehr als 400 Leute rein. Plötzlich war es eine andere Dimension.

  • Und damit automatisch ein Publikum, das nicht nur aus Aktivisten bestand.

  • Ich hab’ heute morgen erst darüber nachgedacht, ob ich das Wort »Aktivist« mag. Es klingt furchtbar. Aber es war halt so: Wir waren Aktivisten. Man hat, sobald irgendwo was los war – in Stuttgart-Ost oder sonst wo – Flyer bekommen, die man dann in seiner eigenen Stadt verteilt hat. Völlig sinnlos! Dann hat man eine Fahrgemeinschaft gebildet und ist hingetrampt oder mit dem Zug gefahren. Daher kommt auch das berühmte Jahresticket, das alle hatten, weil es irgendwann sonst einfach zu teuer gewesen wäre, auf alle Veranstaltungen zu fahren. Am Anfang war ja nur alle paar Monate eine Jam. Aber bald konnte man schon jedes Wochenende irgendwo hin fahren. Und das hat man ganz selbstverständlich gemacht, ohne sich zu fragen, ob man da eigentlich Bock drauf hat (lacht).

  • Wir habt ihr damals von Veranstaltungen erfahren?

  • Per Telefon, Post oder die Fanzines wie »In Full Effect«, »Subotage« oder »Rap Nation«. Die wiederum hat man auf den Veranstaltungen gekauft. Wenn jemand eine Platte gemacht hat, ist derjenige aus dem Umfeld der Band, der ein Jahresticket hatte, von Laden zu Laden getingelt und hat die verkauft. So entstand langsam eine Art Infrastruktur.

  • Wie hat das Musikindustrie-Establishment darauf reagiert?

  • Das wurde sehr früh wahrgenommen. Es gab nur eine totale Schere in der Wahrnehmung, die auch von Stadt zu Stadt unterschiedlich war. Wir hatten hier in München ja große Labels und haben live mitgekriegt, dass es von Anfang an Bemühungen gab, da teil zu haben. Wenn die Kids behauptet haben, dass sie keinen Plattenvertrag kriegen, musste ich ihnen oft widersprechen: Dann habt ihr einfach nicht mit den richtigen Leuten gesprochen. Allerdings war die Plattenindustrie noch total von A&Rs geprägt war, die glaubten, alles besser zu wissen, und sehr stark Einfluss genommen haben. Das ging sich natürlich nie aus. Dadurch wurde schnell zu einem Mantra, dass man auf keinen Fall zum Major gehen darf. Zum Glück haben sich schnell ein paar alte Punker mit eingebracht: Buback, Uprock und diese ganzen Leute.

  • Hast du ein Beispiel für einen talentierten Act aus dieser Frühphase, der sich aber von einem Major hat versauen lassen?

  • Rasul Allah – Gott hab ihn selig! Der hat beim Reinboth mal eine Single aufgenommen: »Peace in the World« mit den Worldpeace MC’s. Das ist zwar kein Deutschrap, aber ein typische Beispiel dafür, wie sich Leute, die technisch weit vorne waren, mal auf ein Industrie-Abenteuer eingelassen haben. Die Plattenfirmen haben den jungen Produzenten nicht getraut. Die konnten nicht glauben, dass dieser simple Bummtschack funktioniert. Das musste immer noch eine Harmonie haben! Und auf alle Fälle: einen gesungenen Chorus, am besten von einer schwarzen Frau mit geflochtenen Zöpfen. Bei »Peace in the World« mussten die Jungs den Chorus singen. Die Scheibe ist wirklich grauenhaft. Da gibt es sicher noch ganze Giftschränke voll mit Material… Ich saß mit meiner damaligen Freundin End Two auch mal bei so einem etwas abgehalfterten Produzenten, der einen Song eingerappt haben wollte. Erst beim dritten Hören ist mir aufgefallen, dass der Chorus eine übersetzten Version von Nickis »Servus, mach’s guat« war (lacht).

  • Es gab also die hölzernen autonomen Sachen und die kitschigen Industrie-Sachen. Wann dachtest du zum ersten Mal: Fett, das kann ich mir ganz normal anhören, so wie Snoop oder Biggie? 

  • Direkt bei »Fremd im eigenen Land«! Das ist einfach ein super Song. »Schlüsselkind« auch. Und »Fenster zum Hof«. Das waren die drei Songs für mich. Fettes Brot fand ich auch lustig, »Nordisch By Nature« hat nach vier Bier schon funktioniert. Ganze Alben konnte ich erst später unterschreiben. Der Unterhaltungsfaktor hat mir einfach lange gefehlt. In Frankreich oder England war Rap schon viel früher viel weiter. Ich denke, das lag daran, dass sie die HipHop-Geschichte ganz anders umarmt und nicht nur zwanghaft geschützt haben. In Deutschland ist HipHop in einer Art hermetischem Raum entstanden. In anderen Ländern ist das in alle möglichen Gesellschaftsbereiche übergegangen, man war nicht outstanding als HipHopper. Das war ein Phänomen, bei dem mehr oder weniger jeder mitmachen konnte. 

  • In Deutschland hat die Frage der »Zugehörigkeit« noch Ende der neunziger Jahre eine riesige Rolle gespielt.

  • Absolut. Aber du musst dir mal die einzelnen Lebenswege der wichtigen Aktivisten anschauen: Das waren keine Leute, die früher Anführer einer Popper-Gruppe waren. Das waren Leute, die auf der Suche waren. Die haben das festgehalten, was sie gefunden hatten. In Frankreich dagegen galt es als cool, wenn man anders war.

  • Hat dir die Pop-Werdung zum Ende der Neunziger also weniger Unbehagen bereitet als vielen anderen deiner Generation?

  • Mir hat das deswegen weniger Unbehagen gemacht, weil ich persönlich schon länger verkommerzialisiert und stark mit der Werbeindustrie verbandelt war: Ich habe mich als Marke gesehen und an größere Marken wie Adidas verkauft. Uns war nur immer wichtig, dass wir die Kontrolle behalten. Tupac würde sagen: I make my own rules! Aber de facto war 1997 alles schon sehr kommerziell. Es gab noch viele, die gesagt haben: Ich kann doch nicht zum Major. Aber das war meistens reine Ziererei. Es wurde kokettiert, obwohl jeder schon wusste, wo die Reise hingeht. Womit wir bei der Gründung vom »Juice«-Magazin wären (grinst).

  • Wie genau kam es zur Gründung?

  • Ich war bei der Präsentation eines Parfums von Tommy Hilfiger. Die Promoter dachten sich: Hilfiger? Na da laden wir doch mal ein paar HipHopper ein. Also bin ich da mit meiner Crew eingelaufen. Wir haben unsere Free Samples abgegriffen, kurz cool rumgepost und uns dann unglaublich besoffen. Dabei habe ich den Verleger Alex Lacher getroffen. Ich kannte sein Magazin »Piranha« und die dazugehörigen Partys, auf denen ich unzählige Male gefeiert habe. Ich wusste also ungefähr, was der Typ macht, und fand ihn ganz okay. Alex meinte zu mir: »Ich würd’ gern ein HipHop-Magazin machen.« Ich meinte: »Cool, ich weiß, wie das geht.« Das Irre ist, dass ich am nächsten Tag eigentlich einen neuen Job als Cutter beim Film antreten sollte. Die Filmproduktion war aber zufällig auf dem selben Gelände wie der Verlag. Ich kam da also relativ verkatert morgens an, in der festen Annahme, Cutter zu werden. In der Mittagspause bin ich kurz rüber zu Piranha Media. Damals haben da vier oder fünf Leute gearbeitet. Alex hing in seinem Büro auch voll in den Seilen. Wir haben ein bisschen geredet und fanden beide, dass das gar nicht so blöd war, worüber wir da am Abend zuvor im Suff gesprochen hatten. Lacher meinte dann: Dann lass uns das machen, ich geh’ das Risiko ein! Das muss ich ihm heute noch hoch anrechnen. Er hat direkt vorgerechnet, wie viel das kostet und wie viel er investieren kann. Dann bin ich zurück gegangen und hab’ den anderen gesagt, dass ich doch nicht Cutter werde (lacht). Die dachten, ich bin verrückt. Aber ich bin wieder rüber, habe mir einen Schreibtisch genommen und let’s go! 

  • Was hat dir denn gefehlt an den Magazinen, die es schon gab?

  • Mich hat gestört, dass alles immer so ein gleichberechtigtes Konglomerat sein musste. Es war zu der Zeit eine echte Seuche in der Szene, dass es immer ein Plenum geben musste. Dieses WG-hafte, jeder darf mal, und man muss auch toll finden, was der andere macht… Ich habe in München zum Beispiel mit den Leuten vom »WooHaa«-Magazin gearbeitet. Da war das auch so. Ich wollte aber nur mit Leuten zusammenarbeiten, die ich wirklich gut fand. So habe ich als erste Amtshandlung wieder den Chris Maruhn angerufen. Er hat sofort seine Arbeit an »In Full Effect« eingestellt und alles in die »Juice« einfließen lassen – als hätte er nur darauf gewartet. 

  • Was war der Plan für die »Juice«?

  • Meine Vision war im Wesentlichen, die »Source« zu imitieren. Ich hab mir deren Heft-Aufbau angeschaut und so den ersten Themenplan erstellt – nur den Sex haben wir rausgenommen, weil ich wusste, dass das in Deutschland nicht funktioniert. Vor allem war mir wichtig, dass deutsche und internationale Themen auf Augenhöhe behandelt werden. Das war ja vorher nie geschehen, interessanterweise auch in den Fanzines nicht. Die sind durchgedreht, wenn sie mal einen Ami auf Deutschland-Tour abgreifen konnten. Drei Monate nach der Tour kamen dann alle Fanzines mit dem gleichen Künstler auf dem Cover – und alle mit den selben beschissenen Fotos. Das haben wir anders gemacht. 

    Die Vision war, auch die deutschen Rapper wie Stars zu präsentieren, ob sie das zu diesem Zeitpunkt schon waren oder nicht. Ich wusste: Wenn wir unsere Leute mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie internationale Acts behandeln, entwickelt sich das von selbst. Mir ging es um die Professionalisierung des Ganzen. Sonst wäre weiterhin passiert, was zu dem Zeitpunkt gängig war: dass deutscher HipHop imitiert wird und die falschen Leute reich macht. Ich hatte noch den Reflex des geschützten Raumes. Phänomene wie Der Wolf oder Cappuccino waren irrsinnig erfolgreich, zumindest als One-Hit-Wonder. Deren Promo-Leute riefen an und meinten: »Ihr seid doch ein HipHop-Magazin.« – »Ja, und genau deshalb habt ihr darin nichts zu suchen…« Das waren lange Diskussionen. Ich habe mich als Kurator verstanden.  

  • Die Reaktionen aus der Szene waren trotzdem nicht ausschließlich positiv.  

  • Ich musste mich zu Beginn sehr für die »Juice« verteidigen. Die Szene hat das nicht wirklich umarmt. Ich glaube, der Ralf Kotthoff von »MZEE« fand uns irre scheiße. Wir waren ja auch frech und haben uns schon vor der ersten Veröffentlichung »HipHop-Magazin #1« genannt, was eine ganz klare Ansage an die »Backspin« war (lacht). Außerdem hatten wir mit Puffy einen kommerziellen Künstler auf dem Cover der Pilotausgabe, auch um die Anzeigenkunden zu überzeugen. Ich habe das den Leuten aus der Szene immer so erklärt: Wenn ich Puffy oder Jay-Z aufs Cover nehme, und jemand kauft sich das deswegen und liest dann weiter – dann habe ich gewonnen. Wenn ich mein Wissen teile, erst recht. Die Backspin hat damals ein großes Insiderwissen vorausgesetzt. Die Leute, die für uns geschrieben haben, hatten dieses Insiderwissen auch, aber sie haben es geteilt. Und wenn man sich anschaut, wie nach der Gründung der Juice in Deutschland alles explodiert ist, wird klar, dass wir Recht hatten. Wir hatten innerhalb von zwei Jahren eine Auflage von über 60.000, teilweise 70.000. Das muss man erstmal schaffen. Was Puffy angeht, will ich übrigens noch zu meiner Ehrenrettung sagen: Ich hatte damals den einzigen Pressetermin für ein deutsches Medium in London. Aber ich bin nicht in den Flieger gestiegen. Ich habe erstmal zwei Stunden am Flughafen gewartet, dann habe ich den Promoter angerufen und mich entschuldigt, dass ich krank sei. Ich hätte auch vorher absagen können, aber ich wollte verhindern, dass jemand anderes den Interview-Slot bekommt und irgendwas in Deutschland dazu passiert. Puffy hat für mich das Böse verkörpert. Der war der schwarze Schatten über allem, und dem wollte ich keinen Raum geben. 

  • Die vierte Ausgabe war dann mit Michi Beck von Fanta 4 auf dem Cover – und gleichzeitig die Geburtsstunde des Begriffs »Deutschrap«. 

  • Wir hatten keinen großen internationalen Künstler, den wir aufs Cover packen konnten, und Four Music hat irre gedrückt, dass wir den Michi nehmen, dessen Soloalbum gerade anstand. Es sollte aber nicht alleine um ihn gehen, sondern mehr als Sammelgeschichte wahrgenommen werden, denn die Fantas waren immer noch ein kontroverses Thema. Deshalb haben wir dieses berühmte Foto genommen, auf dem er in die Kamera schreit, und ihm das Wort »Deutschrap« in den Mund gelegt. »Deutscher Rap« fühlte sich kacke an: Das klang, als würde es der Goebbels persönlich anordnen. Aber »Deutschrap« – angelehnt natürlich an den Begriff »Deutschrock« – fand ich irgendwie cool. 

    Alle anderen waren dagegen, die ganze Redaktion. Aber ich habe mich durchgesetzt. Der Grafiker Thomas Gröger hat immerhin noch darauf bestanden, das Wort typografisch zu trennen, also »Deutsch« in fett und »Rap« in dünn… Ich wusste ja selbst, dass es Probleme geben würde. Es gab dann tatsächlich Hunderte von Anrufen, Briefen und Faxen mit Beschwerden. Manche Künstler wollten nicht auf Compilations, wenn die „Deutschrap” im Titel hatten. Aber wir haben es durchgezogen, und vor ungefähr zehn Jahren hat sich »Deutschrap« dann als feststehender Begriff durchgesetzt. Das war für mich schön zu sehen. Es sollte ja auch ein Zeichen dafür sein, dass wir das jetzt machen. Dass wir, die Szene, die Protagonisten, das selbst in die Hand nehmen und uns um unser eigenes Business kümmern.

  • Nach dem Boom dieser Jahre kam der große Kater. Zumindest geht so die allgemein anerkannte Erzählung.

  • Wenn man sich das rückblickend anschaut: Totaler Humbug! 

  • Gab es bei dir trotzdem einen Moment, an dem du dachtest: Scheiße, wir haben dieses Monster erschaffen? Die hysterischen Majors, die nervigen Werbespots, die Katerstimmung… Habe ich hier etwas kaputt gemacht, das mir wirklich wichtig ist?

  • Nein, hatte ich nie. Weil man ja sehen konnte, was passieren wird. Die Katerstimmung kam nicht, weil inhaltlich etwas falsch lief. Die Katerstimmung kam, weil es die Digitalisierung von Musik und Napster gab. Musik wurde auf einmal kostenlos. Aber eine gesamte Industrie, die von unglaublichen Margen gelebt hatte, wollte ihre Privilegien nicht aufgeben: die Business-Class-Flüge und die Top-Hotels. Die haben sich sehr stark umgeschaut, als die Verkäufe auf einmal irrwitzig eingebrochen sind. Da wurde von Krise geredet, ja. Aber in echt gab es keine Krise. Es wurde weiterhin Musik gemacht. Natürlich war etwas weniger Geld im Spiel, und deswegen gab es diese Unsicherheit bei den Majors, die zuerst alles gesignt hatten, was nicht bei drei auf den Bäumen war, und dann nach drei Jahren auf einmal ausmisten wollten. So gab es lauter Künstler, die auf einmal keinen Deal mehr hatten und eine Fresse gezogen haben. Alles musste sich erstmal neu sortieren. Aber das ist normal. Es geht hoch und irgendwann wieder runter. Wichtig war, dass in dieser Zeit die richtigen Strukturen geschaffen worden waren und die Leuten verstanden hatten, dass man keinen Major und keine Massenmedien braucht. Genau das, was wir vorhatten, ist aufgegangen. 

  • Seitdem sind 20 Jahre vergangen. Hattest du damals eine Vorstellung, wie groß HipHop in Deutschland mal werden würde?

  • Nein. Vor allem hätte ich nicht gedacht, dass es sich so lange hält. HipHop ist heute die Leitpopkultur. Du kannst in eine x-beliebige Wohnung gehen und siehst einen Haufen Dinge, die es ohne HipHop nie gegeben hätte: bestimmte Grafiken, DJ-Schallplattenspieler, die Art der Sneaker, die jeder im Regal hat. Das sind alles Auswüchse von HipHop. Es macht mir wahnsinnig Spaß, das zu sehen. Wie lange mussten wir dafür kämpfen, ernst genommen zu werden? Das ist ja ein essenzieller Teil des ganzen HipHop-Dings: dass wir gemeinsam diese Selbstverständlichkeit und diesen Stellenwert etabliert haben. Wenn heute ein Act erfolgreich ist, müssen die Nikes und Adidas’ dieser Welt „bitte, bitte” sagen, nicht umgekehrt. Die Richtung hat sich geändert. Und das ist das Allerwichtigste.