Dexter & Max Herre »Das ist bislang im Westen eine Leerstelle, ein toter Winkel.«
Zum 75. Jubiläum des Ost-Labels Amiga durften zwei ausgewiesene Hip Hop-Größen eine spannende Compilation mit Funk und Soul aus der DDR kuratieren. ALL GOOD-Autor Till Wilhelm spricht mit Max Herre und Dexter über den Reiz deutschsprachiger Samples, Fragen kultureller Aneignung und die Arbeit an »hallo 22«.

Vor 50 Jahren erschien bei Amiga erstmals eine Schallplatte mit dem recht simplen, aber einladenden Titel »hallo«. Der letzte Titel der B-Seite trug den Namen »Aus und Vorbei«, ein Stück der Band Panta Rhei, das ein halbes Jahrhundert später den von Max Herre und Dexter gestalteten Sampler »hallo 22« eröffnet. Zwischen den beiden Platten mag die Zählweise aus dem Ruder gelaufen sein – die Musik hat an Ausdrucksstärke nicht verloren. »hallo 22« dokumentiert und kanonisiert ostdeutsche Musik der Siebziger Jahre, die nicht bloß von beeindruckender Virtuosität, sondern auch von Einflüssen durch bis heute legendäre Soul- und Funk-Musik der USA zeugt. Abgesehen von ein paar wenigen eigentümlichen Sampling-Spielereien und Liebhaber-Sammlungen klafft hier bislang eine Lücke in der Wahrnehmung deutscher Popgeschichte. Zeit, sie zu schließen – oder wenigstens vorsichtig zu erkunden.
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Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?
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Max Herre: Dexter ist natürlich ein Household-Name im Hip Hop. Wer kennt ihn nicht? Wann wir uns das erste Mal begegnet sind, weiß ich gar nicht. Haben wir mal in Heilbronn zusammen aufgelegt?
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Dexter: Ihr wart in Heilbronn. Ich war nicht da, aber mein damaliger Manager. Irgendwann haben wir dann telefoniert, da ging es schon um Beats.
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Max Herre: Das ist sicher über zehn Jahre her. Dexter hat mir immer mal Beats geschickt. Auf meinem letzten Album »Athen« hat es zum ersten Mal geklappt, da sind gleich zwei Beats von ihm gelandet. Heute wohnt er in meiner alten Nachbarschaft, gegenüber meines ersten Proberaums. Wenn ich nach Stuttgart komme, gibt es zwei Adressen: Die Wohnung meiner Eltern und dann durch den Stuttgarter Westen zu Dexy tingeln.
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Sind gegenüber immer noch Proberäume?
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Max Herre: In der Wohnung über dem Proberaum wohnte früher ein Freund, der einen Verleih für Equipment hatte. Da haben wir den Gewölbekeller mit Eierkartons ausgebaut.
Dexter: Gerade ist dort eine Art Atelier drin.
Max Herre: Gegenüber hat auch mein Vater in einem Architekturbüro gearbeitet – in den Siebzigern.
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Wie seid ihr jeweils auf DDR-Musik gestoßen?
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Dexter: Ich muss immer DJ Marc Hype nennen, der schon Anfang der Nullerjahre ein Mixtape veröffentlicht hat namens »Funkvergnügen«. Das war voller deutschsprachigem Soul und Funk, auch ein paar Klamauk-Nummern. Ganz viel davon kam von Amiga, das wusste ich damals nicht. Für mich war es krass, deutschsprachige und wirklich gute Musik zu hören. Ich bin interessiert an Musik aus aller Herren Länder. Die DDR war ein sehr zugänglicher Teil davon – für brasilianische oder türkische Sammlerstücke zahlt man horrende Summen. Durch das Plattensammeln habe ich mir nach und nach diese Welt und eine gewisse Expertise erschlossen.
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Wie hat dich das gecatcht?
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Dexter: Erstmal ist es obskur. Wirklich beeindruckend war aber die Qualität dieser Songs. Die Aufnahmen waren tauglich zum Auflegen und zum Samplen, konnten aber auch für sich stehen. Bläser-Arrangements, Wechsel im Tempo, kryptische Texte. Das hatte eine Magie an sich.
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Max Herre: In den späten Neunzigern war ich in Stuttgart öfter im Hi Club!, wo der DJ, Andreas Vogel, schon Manfred Krug, Uschi Brüning und Gerd Michaelis Chor aufgelegt hat – zwischen Marvin Gaye und James Brown. Die Leute haben einfach weiter getanzt. Anfang des neuen Jahrtausends bin ich nach Berlin gezogen. Die Flohmärkte waren voller Amiga-Platten. Der Rest war Digging. Man kennt schon eine Platte, sieht dann bei einer anderen: »Ach, da produziert ja wieder Günther Fischer!«. Oder: »Ach, 1973 ist doch eh ein gutes Jahr.« Da bin ich geboren, das war immer mein Glücksjahr. Manche Platten habe ich nur wegen des Covers gekauft. Dann kommt es aufs Glück an. 2004 habe ich mit Toni Krahl von City eine Neuauflage von dessen Song »Der King vom Prenzlauer Berg« gemacht. Seitdem war die Tür zu Amiga offen – und ich hatte immer wieder mit Jörg Stempel zu tun. Anlässlich des 75. Label-Jubiläums kam er nun auf uns zu und fragte, ob wir Lust hätten, eine Compilation zu machen. Wir fanden das super und hoffen, einen neuen Blickwinkel bieten zu können.
- Wenn du ein deutschsprachiges Sample findest, ist auch der textliche Rahmen schon gegeben. (Max Herre)Auf Twitter teilen
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Zwei der Songs kannte ich schon als Sample: »Es bleibt die Sonne« vom Gerd Michaelis Chor in Dexters »Die Wettermaschine« mit Morlockk Dilemma. Und Uschi Brünings »Wenn es so ist« vom V.Raeter-Track »Manchmal«. Welchen Reiz hat es, deutsche Stücke zu samplen?
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Dexter: Die Nähe des Materials macht deutschsprachige Musik interessant. Bei diesen Stücken kann man die kulturellen Gegebenheiten und alles, was dahinter steckt, viel enger nachvollziehen als bei Soul und Funk von anderen Kontinenten. Gerade im Fall von Morlockk Dilemma, der aus Leipzig kommt und einen ganz anderen Bezug zu diesem Sample mitbringt.
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Max Herre: Für mich war es auch immer die Suche nach einem Schnipsel, der nicht bloß musikalisch funktioniert, sondern auch textlich etwas vorgibt. Wenn du ein deutschsprachiges Sample findest, ist auch der textliche Rahmen schon gegeben.
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Dexter: So haben es auch die Amis häufig gemacht. Etwa bei »Oh Boy« von Cam’ron oder »Ms. Fat Booty« von Mos Def.
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Dendemann hatte mit Eins, Zwo schon 1998 den Track »Kalt wie Eis«, inklusive Manfred Krug-Sample.
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Max Herre: Wie Dendemann komme ich aus einer Generation, in der es einen großen Reiz hatte, nicht nur einem tollen Beat, sondern auch einem Thema gerecht zu werden. Er hat auch später das Hildegard Knef-Tribut »Insel meiner Angst« gemacht. Bei »Nachts« wollte ich das Panta Rhei-Sample so behandeln, als hätte mich die Band gefragt, ob ich eine Rap-Strophe für das Lied schreibe. Reizvoll ist, sich in den Dienst der Sache zu stellen, anstatt einfach nur unverschämt drüber zu gehen. So erfährt der kulturelle Kontext mehr Wertschätzung.
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Rap aus den USA gewinnt durch seine Samples eine tiefe kulturelle Verankerung, die in Deutschland meines Erachtens oft fehlt. Warum berufen sich Produzenten hier nicht stärker auf die lokale Musiktradition?
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Max Herre: Der Soul und Funk aus den USA ist ein gigantischer Fundus, der sich immer wieder erweitert. Dafür, wie klein diese Szene war, ist es erstaunlich, wie viel es in der DDR der Siebziger gab. Am Ende ist das Ausgangsmaterial aber endlich. Wir hatten allerdings schon noch mehr Ideen, als wir jetzt mit »Aus und vorbei« und »Das war nur ein Moment« umgesetzt haben. Ich glaube dennoch, dass der aktuelle Hype um Drumless Beats nochmal mehr in diese Richtung produzieren wird.
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Dexter: Ich bin totaler Fan von zeitgenössischem Hip Hop. Aber: Sampling ist nicht mehr die alleinige Grundlage von Beatmaking. Früher wurde kaum etwas eingespielt. Heute werden vielleicht noch Samples von Splice benutzt, aber das Nerdtum verschwindet. Und für den kleinen Kreis, der daran festhält, reicht der Fundus.
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Max Herre: Digging-Culture war für mich immer mehr, als das richtige Sample zu finden. Mich interessiert, wer die Musik gemacht hat, in welchem Kontext sie entstanden ist. Über die Jahre hatte ich immer wieder das Privileg, die Urheber*innen der Musik zu treffen, die mich fasziniert. Wenn man dann mal wirklich mit Tony Allen über westafrikanische Musik oder mit Mulatu Astatke über Ethio Jazz sprechen darf, eröffnen sich noch einmal ganz andere Perspektiven.
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Dexter: Oder unser großes Gespräch gestern mit vielen Musiker*innen von Amiga.
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Max Herre: Wenn Henning Protzmann von meiner erklärten Lieblingsband Panta Rhei erzählt, wie und wo »Aus und vorbei« aufgenommen wurde, das ist für mich das Interessante. Schon mit Freundeskreis haben wir als Band gespielt. Schnell ging es nicht mehr darum, Sounds nur zu samplen, sondern zu verstehen und zu lernen, wie man sie generiert.
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Dexter: Auch als Wertschätzung.
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Max Herre: Wie kriegt man denn so einen Drumsound hin? Warum klingt James Jamerson mit seinem Fender Jazz Bass und den Flatwound-Saiten so, wie er klingt? Welches Rhodes hat Brian Jackson benutzt, wenn er die Platten von Gil-Scott Heron eingespielt hat? Wir kommen aus einer Ära, die total auf die Siebziger referiert. Also wollten wir auch wissen, wie es geht.
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Dexter: Und nicht nur: Wie spielt man das Instrument? Sondern auch: Wie nimmt man es auf, dass es so satt und analog und schön klingt?
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Max Herre: In der Auseinandersetzung stößt man zwangsweise auch darauf, warum Curtis Mayfield oder Nina Simone eben diese Texte geschrieben haben. Dann kommt eine andere Ebene dazu, die uns auch im Rahmen von »hallo 22« total interessiert. Wie sahen die Produktionsbedingungen aus, wie waren die politischen Gegebenheiten? Wie sehr hat die Zensur ins Studio reingespielt? Warum sind die Texte, wie sie sind? Was ist diese sehr kryptische, chiffrierte Sprache, die da entwickelt wird?
- Diese Geschichten aus erster Hand erzählt zu bekommen, war für mich ein richtiges Learning. (Dexter)Auf Twitter teilen
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Konntet ihr denn schon während der Arbeit an »hallo 22« mit den vertretenen Künstler*innen sprechen?
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Dexter: Max hatte Kontakt mit Veronika Fischer, aber Uschi Brüning oder Günther Fischer hatten wir vorher nicht gekannt. Auch daher war das gestern sehr aufschlussreich, auch von menschlicher Seite. Diese Geschichten aus erster Hand erzählt zu bekommen, war für mich ein richtiges Learning.
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Max Herre: Wir saßen im alten Funkhaus in der Nalepastraße, da kommt Uschi reingelaufen und sagt, »Hochzeitsnacht« habe sie hier aufgenommen. Oder Günther Fischer erzählt, er stand hier drei, vier Stunden mit einem Orchester, um Arrangements aufzunehmen. Die Protagonist*innen an ihrem alten Schaffensort zu treffen, das ist nochmal etwas ganz anderes. Auch die Dynamik untereinander, das hatte etwas von Klassentreffen. Die Leute hatten sich teilweise 15, 20 Jahre lang nicht gesehen.
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Gab es Anekdoten, die für euch ein neues Licht auf die altbekannten Songs geworfen haben?
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Max Herre: Henning Protzmann erzählte, sie haben ihre Songs zunächst auf Englisch aufgenommen. Ihnen wurde dann ans Herz gelegt: Wenn Panta Rhei eine Amiga-Platte machen will, dann bitte auf Deutsch. Und Günther Fischer konnte spannend von der Produktionsseite berichten. Es gab ein Ur-Band, also ein Tonband, da musste die ganze Band drauf. Und das Orchester kam auf ein anderes Tonband, das wurde immer weiter runtergemischt – aber niemand wusste, was am Ende wirklich dabei rauskommt. Marvin Gayes »What’s Going On« gab es da noch nicht, es gab kein Vorbild für diesen Soul-Orchester-Sound. Die waren so auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe der Coolness. Das ist, als hätte jemand in Heilbronn einen Trap-Beat gebaut, während das zeitgleich in den Südstaaten entsteht.
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Wie sind diese Musiker*innen überhaupt zu den US-amerikanischen Einflüssen gekommen?
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Dexter: In den Sechzigern gab es einen maßgeblichen Einfluss durch Aretha Franklin und Ray Charles. Später, so habe ich Günther Fischer verstanden, hat er diese Sachen gar nicht mehr unbedingt gehört. Wie hast du das wahrgenommen, Max?
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Max Herre: Henning Protzmann sagte schon, er hätte sich für Chicago und Blood, Sweat and Tears, also Jazz Rock interessiert. Aber irgendwann entstand eine eigene Dynamik. Der Grund, warum diese Künstler*innen an ihren Instrumenten und in der Produktion so gut waren, ist, dass es für eine Spielerlaubnis in der DDR einer Musikausbildung bedurfte. Günther Fischer hat klassische Komposition studiert und dann angefangen, Jazz zu spielen. Das ist eine andere Herangehensweise als im Westen, wo man vielen Krautrock-Sachen bis heute ihr Autodidaktentum anmerkt.
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Dexter: Mein Taxi ist leider schon da, ich muss los.
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Mach’s gut! Was die Funk- und Soul-Einflüsse angeht: Wurden die politischen Kontexte dieser Musik damals rezipiert?
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Max Herre: Es gibt explizit politische Songs wie »Oh Angela« von Uve Schikora. Auch »Tuyet« von Panta Rhei verhandelt kritisch den Vietnamkrieg, ist aber nicht auf der Platte. Es gab in der DDR eine Schnittmenge, in der antiimperialistische Perspektiven auch Staatsräson waren.
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Die Verehrung für Angela Davis in der DDR ist ambivalent. Der Osten setzte sich für ihre Freiheit ein, im Ganzen war das aber eine PR-Aktion für das SED-Regime.
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Max Herre: Davis kam dann mehrfach zu Besuch in die DDR. Für viele internationale Marxist*innen war es schon so, dass man schauen wollte, was in den realsozialistischen Staaten denn genau passiert. Und viele dieser Figuren haben an der Idee festgehalten, dass sich auch in den real existierenden Staaten noch etwas entwickeln kann.
- In der Musik, im Nonverbalen, war die Freiheit größer. (Max Herre) Auf Twitter teilen
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Vorhin hattest du die kryptische Sprache der Lieder angesprochen. Wurde der widerständige Charakter der Musik für eigene Kämpfe übersetzt?
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Max Herre: In der Musik, im Nonverbalen, war die Freiheit größer. Das hört man den Liedern an. Die sind unglaublich eklektisch, strotzen zum Teil vor Ideenreichtum, aber auch Ungefälligkeit. Jeder Idee wird nachgegangen. In den Texten hat sich eine ganz eigene Sprache entwickelt. Gestern im Gespräch ging es eher um die Schere im Kopf der Textdichter*innen. Denen war bewusst, was sie an der Zensur vorbei kriegen – und was nicht. »Stapellauf« von Joco Dev wurde viermal umgeschrieben, bis der genehmigt wurde. Teilweise wurden auch offensichtliche Red Flags eingebaut, auf die sich das Lektorat stürzte, um andere zweideutige Passagen durchzukriegen.
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Welche Spuren dieser DDR-spezifischen Kämpfe lassen sich auf »hallo 22« noch nachverfolgen?
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Max Herre: In »Es gibt Momente« singt Hansi Biebl: »Es gibt Momente, da stellen sich die Weichen […] Entscheidungen fallen, die in die Zukunft reichen«. Da sage ich: das lässt sich auch politisch lesen – ich habe aber nie mit ihm darüber gesprochen. Meine These ist, dass diese Generation so auf Soul, Funk und Jazz abgefahren ist, weil es Musik aus dem Westen war, die aber trotzdem aus einer marginalisierten Perspektive kam. Deswegen wurde sie auch von der Obrigkeit anders bewertet. Als Befreiungsmusik, die zwar imperialistisch vermarktet wird, aber von unten kommt und politische Sprengkraft besitzt.
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Hat die Arbeit an »hallo 22« dir auch persönlich noch einmal neue Perspektiven auf diese Musik eröffnet?
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Max Herre: Dexter hat tatsächlich Songs hervorgezaubert, die ich nicht auf dem Schirm hatte. Was man der Platte anhört und worüber ich auch froh bin: dass man wirklich von einer Ära sprechen kann, von einer bedeutenden Szene und einem goldenen Zeitalter. Wenn die Platte einen Beitrag leisten kann, dann, dieses Erbe in einen gesamtdeutschen Musikkanon zu überführen. Es ist bislang im Westen eine Leerstelle, ein toter Winkel. Dabei ist die Musik viel zu gut und wichtig und wirklich von internationalem Rang, als dass man einfach daran vorbeigehen könnte.
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Um den Kreis nochmal zu schließen: Würdest du dir wünschen, es gäbe im zeitgenössischen Hip Hop mehr Bewusstsein für lokalhistorische Sounds?
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Max Herre: Wir leben in einer Zeit, in der zurecht Diskussionen um kulturelle Aneignung geführt werden, auch in der Musik. Eine Grenze zu ziehen zwischen Einflüssen und einer Besitzergreifung ohne Rücksicht auf Kontexte, das finde ich total wichtig. Eine Kultur, die nicht auf ihre Ursprünge referiert, die sehe ich als problematisch an. Im Digging, im Sampling müssen wir heute den Schritt weitergehen. Nicht nur zu sagen: »Das ist ein guter Sound.« Sondern zu verstehen, in welchem Kontext dieser Sound aus welcher Perspektive von wem geschaffen wurde. Das ist die Aufgabe, die wir haben, wenn wir Ausgangsmaterial in etwas Neues überführen.