Chissmann »Bei uns ist die Booth immer noch die offene Schranktür.«

Nach sechs Jahren Stille meldet sich Mr. Chissmann zurück: zunächst mit einer kurzen EP, doch darauf jeder Menge Bars, die sein Standing als einer der technisch versiertesten Rapper im Deutschrap einmal mehr unterstreichen. Im Interview mit ALL GOOD-Autorin Sofie Rathjens spricht der Hamburger über das Einrappen jenseits großer Studios, Entwicklungen im Rap und neugewonnene Stärke.

Chissmann

Seine Stimme ist älter geworden, rauer, sie verrät, dass viel Zeit vergangen ist seit der RBA. Seit den Anfängen, als Chissmann zum ersten Mal Hamburg, seinen Kiez und das, was das Leben von einem abverlangt, in Lines verarbeitete. Seine Art zu rappen gilt bis heute als unverwechselbar, er hat sie sich erhalten, auch wenn die Gegner vielleicht nicht mehr da sind. Sechs Jahre ohne ein Lebenszeichen, nur wenige seiner früheren Hörer:innen rechneten noch ernsthaft mit neuem Output. Wie würde ein Mr. Chissmann in der modernen Rap-Welt funktionieren, in der die meisten Künstler halb so alt sind wie er selbst und die Straße aus den Songs immer mehr verschwindet? Dann, sechs Jahre nach seinem letzten Release, kehrt Chissmann Ende 2021 überraschend und unangekündigt zurück. Zunächst mit zwei Tracks, »Kein Licht«und »Mein Life«. Und sofort wird klar: es braucht keine Anpassung, um immer noch abzuliefern. Mit der »Ohne mich«-EP, die am 16.9.2022 erscheint, folgt nicht nur ein weiterer Eckpfeiler in der eigenen Diskographie, sondern ein tiefer Einblick in den Kopf von Chissmann, der Themen heute anders betrachtet als früher – auch, wenn der tägliche Hustle geblieben ist.

  • Schön, dass du wieder da bist, wenn ich das so sagen darf. Wie fühlt es sich an?

  • Hey, danke. Die Routine hat sich etwas verabschiedet beim Recorden. Es hat ein paar Anläufe gebraucht, um einen 16er so einzurappen, wie ich wollte. Also wieder da sein ist vielleicht etwas zu optimistisch ausgedrückt. (lacht)

  • Gab es denn einen Schlüsselmoment, der dich zurückgebracht hat, oder jemanden, der dich angestoßen hat, nochmal ins Studio zu gehen und einfach zu schauen, was jetzt dabei herauskommen würde?

  • Ich weiß es gar nicht mehr, um ehrlich zu sein. Texte geschrieben habe ich immer mal wieder, ohne sie letztendlich aufzunehmen. Das Schreiben stand dabei aber auch im Vordergrund. Ich glaube, es kam dann einfach spontan nach ein paar Getränken dazu, ganz ohne irgendeinen Plan oder Vision. Generell ist es aber schon so, dass mein Freundeskreis mich extrem pusht in Sachen Musik.

  • Neben Johnny Ill als Produzent taucht auch ein neuer Name im Zuge deines Outputs auf: stabilemusik. Was oder wer verbirgt sich genau dahinter und wie kam es zu der Combo?

  • Ganz viel Respekt für Johnny, er hat quasi über Nacht den Beat gebaut und ohne irgendeine Absprache zu hundert Prozent meinen Geschmack und das Feeling getroffen! Er hat so mega viel Output, aber alles wirklich high Level. Zu stabilemusik: Es gab schon um 2009/2010 herum einen Online-Radiokanal auf laut.fm der »stabilemusik« hieß und über den KosCash unter anderem auch ein paar Exclusives von mir online gestellt hat. 2021 kam die Idee, das Ganze wieder aufleben zu lassen, und so wurde dann der Instagram-Kanal stabilemusik erstellt, der mit verschiedensten, rapbezogenen Themen bespielt werden sollte. Es hat sich dann aber so ergeben, dass dort zuletzt viele meiner Sachen promotet wurden und werden, weil es noch keinen eigenen Chissmann-Instagram-Channel gab. Das Ganze soll jetzt aber auch dazu dienen, diese ganze Recording-, Mixing- und Labelarbeit als Marke oder eben Label zu versehen, ohne dass es bisher als richtiges Label eingetragen oder angemeldet wurde.

  • Hast du Rap über die letzten Jahre hinweg verfolgt? Gibt es Rapper, deren Releases dich motiviert haben, selbst wieder zu schreiben?

  • Wirklich verfolgt habe ich Rap nicht. Ich habe Sachen angehört, die mir Freunde geschickt haben, oder das, was Spotify mir im Shuffle Modus angeboten hat. Das hat zumindest den Vorteil, dass ich viele alte Tracks entdeckt habe, die ich nicht kannte und dann total abgefeiert habe. Zum Beispiel irgendwelche alten Disarstar-Tacks oder alte Vega-Sachen. »Der alte Achti Vol. 2« habe ich auch viel gehört. Ich mag generell Sachen, die ansatzweise authentisch klingen. Klar gehört Übertreibung als Stilmittel in Rap-Tracks auch dazu, aber ich kann damit nicht mehr soviel anfangen. Ich glaube, meine neunjährige Nichte kannte zum Beispiel Bozza vor mir von diesen »Kinder fragen Rapper«-Videos bei Late Night Berlin, bis mir Kos mal den Track »Elbe« geschickt hat.

  • Wie du siehst du generell die Entwicklung im HipHop über das vergangene Jahrzehnt hinweg? Stilrichtungen kommen und gehen. Hattest du den Kopf dafür frei, dich näher mit dem auseinander zu setzen, was da passiert? Der Song »Mein Life«, zum Beispiel, den du noch Ende letzten Jahres veröffentlicht hast, ist praktisch eine Annäherung an Trap, ohne dass der Beat zu angepasst rüberkäme.

  • Wie eben schon kurz gesagt, bin ich da bestimmt nicht auf dem aktuellsten Stand. Die Entwicklung ist auf jeden Fall positiv, wenn man guckt, was für einen Stellenwert Rap im Vergleich zu früher eingenommen hat. Ich war und bin immer noch ein Freund von Gangsta Rap, allerdings klingt für mich so vieles so gleich, dass ich da etwas taub geworden bin. Diese ganzen New School-Sachen mit Autotune und so weiter treffen auch nicht so meinen Geschmack. Gibt natürlich immer Ausnahmen, ich bin zum Beispiel sehr anfällig für übertrieben melodische Refrains im leichten Sing Sang-Style. Dass »Mein Life« eine Annäherung an Trap ist, war mir zumindest nicht bewusst…

  • Hat sich deine Studioarbeit im Vergleich zu deiner früheren aktiven Zeit verändert?

  • Studioarbeit klingt so professionell, bei uns ist die Booth immer noch die offene Schranktür. (lacht) Sprich: Verändert hat es sich nicht. Wir haben das Equipment etwas aufgestockt und Kos hat sich beim Mixing ein bisschen mehr in die Materie gearbeitet, aber ansonsten ist alles wie immer. Natürlich hätte man die Möglichkeit, bei Freunden ins Studio zu gehen oder das Ganze professioneller anzugehen, aber ich glaube, ich brauche das genau so.

  • Reime an sich sind für mich komplett unwichtig geworden. Auf Twitter teilen
  • Mit deinen Reimketten und deiner Technik hast du quasi ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Deine Art, zu rappen, fiel schon früh auf. Was ist dein persönlicher Anspruch beim Schreiben?

  • Mein Anspruch hat sich mit der Zeit immer weiter verschoben – und zwar in Richtung in eine immer authentischere Richtung. Ich möchte Sachen beschreiben, die andere Menschen nachempfinden können. Ich weiß, dass viele Leute auch die andere, arrogante Battle-Seite von mir mochten, aber es fällt mir immer schwerer, solche Tracks zu schreiben. Ich werde das nicht ganz aufgeben und es werden auch noch Tracks in diese Richtung kommen. Aber Reime an sich sind für mich komplett unwichtig geworden. Es gibt Leute, die Sachen von mir zum ersten Mal hören und dann sagen: »Du, ich würde das vielleicht lieber so oder so machen.« oder »Das reimt sich nicht so gut.« Mir kommt es mehr auf die Wortwahl an. Ich versuche, zu vermeiden, Begriffe zu benutzen, die ich nicht auch so im Alltag benutzen würde. Einfach einen Text schreiben, der möglichst wenig Lückenfüller oder Zweckreimen hat.

  • Durch welche Künstler oder Genre hast du damals denn selbst zur Musik gefunden? Spielen die heute noch eine Rolle bei dir?

  • Ich habe früher sehr viel Rap gehört… Ich weiß gar nicht, ob ich das noch alles zusammenbekomme. Samy Deluxe, die ekligen Savas-Tracks, Stieber Twins, Creutzfeldt & Jakob, irgendwelche wilden DJ Clue-Mixtapes, wo er bei jedem Track reinschreit. Wu-Tang, Jadakiss, Mobb Deep und und und… Damals ist man einfach noch in den Laden gegangen und hat sich was gekauft, ohne davon auch nur einen Track zu kennen. Mittlerweile höre ich definitiv weniger Ami-Songs. Aber wenn Savas einen neuen Track hat, höre ich mir den definitiv an!

  • Es ist ein schönes Gefühl, dass man nach so langer Zeit und vor allem ohne neuen Output noch immer in den Köpfen der Leute ist.Auf Twitter teilen
  • Ein früherer Weggefährte von dir, Lance Butters, sagte vor Kurzem über dich, du seist als Character »nicht greifbar«, man wisse nie, was du gerade machst. Dadurch bist du aber auch schwer angreifbar. Rap findet oft ohne dich statt, doch man erinnert sich ständig an dich. War dir dein eigener Mythos je richtig bewusst?

  • Ich weiß nicht, ob das wirklich ein Mythos ist. Es gab immer diesen kleinen Hype, der aber gewisse Grenzen nie überschritten hat. Zum großen Teil sind das, denke ich, die Leute von früher. Ich habe das Gefühl, dass ich die heutigen Rap-Hörer mit dem, was ich mache, nicht erreiche. Das liegt natürlich auch an dem ganz anderen Standard heutzutage. Mir kommt es so vor, als würde ich noch RBA-Runden aufnehmen, während jeder andere Rapper high-end-produzierte Tracks hat. Natürlich ist es aber trotzdem ein schönes Gefühl, dass man nach so langer Zeit und vor allem ohne neuen Output noch immer in den Köpfen der Leute ist.

  • Hast du in der Vergangenheit etwas von dem Support mitbekommen, der dir – meist ganz ohne aktuelles Output – immer noch zu Teil wurde? Im MZEE-Forum zum Beispiel scheint auf kaum ein Comeback so lange gewartet zu werden wie auf deins…

  • Nein, absolut nicht. (lacht) Ich bin in keinem Forum aktiv. Es gibt nur noch einen Chissmann-Facebook-Account, den ich aber nicht betreibe. Weißt du, vielleicht ist es auch besser so … sonst fühle ich mich irgendwie schlecht, dass es nur drei Tracks geworden sind.

  • Wer hat dich die letzten Jahre überhaupt noch zu Gesicht bekommen oder was von dir gehört? Befindet sich zum Beispiel ein JAW noch in deinen Kontakten oder hast du dich für lange Zeit einfach von allem zurückgezogen?

  • Bevor Corona losging, habe ich BOZ und seinen Bruder Kareem bei deren Open Mic-Veranstaltung in Hamburg getroffen. Das war der letzte Kontakt zu irgendjemand aus der Rap-Szene. Ich bin da tatsächlich komplett isoliert. Mit JAW habe ich wahrscheinlich das letzte Mal geschrieben, als ICQ noch der Shit war… Es ist nicht so, dass ich mich da komplett rausnehmen will, aber wenn es mir mental nicht hundert Prozent gut geht, habe ich schon Probleme, den Kontakt zu meinen engen Freunden zu halten. Kos hat zum Beispiel den Kontakt zu Johnny hergestellt, ohne dass ich da irgendwie involviert war.

  • Auf dem ersten Song der gleichnamigen EP »Ohne mich« rappst du, dass man ohne dich ablege, obwohl du eigentlich mitwillst. Dabei sei wahrscheinlich nur dein Viertel in der Lage, dich zu verstehen. Beschreibt das am ehesten deine Schwierigkeiten, ein Teil der Gesellschaft zu sein und so zu funktionieren, wie man es von dir erwartet?

  • Definitiv! Dieses Gefühl, dass alle um einen herum Fortschritte machen, sich entwickeln und man selbst seit Ewigkeiten stagniert, obwohl es Wege und Möglichkeiten geben würde. Mit »außer im Viertel« sind dann auch eher Freunde und Familie gemeint, die wissen, wie man tickt und immer für einen da sind.

  • Jede Stadt hat ja solche Viertel wie das auf deinem Track erwähnte. Man sucht sich eines, das am besten zu einem passt – oder man ist dort bereits aufgewachsen. Du wirst wohl für immer unmittelbar mit Hamburg assoziiert werden …

  • Ich liebe diese Stadt und glaube nicht das ich mal wegziehe, auch wenn ich in letzter Zeit den Drang habe, mich zu überwinden und neue Länder zu entdecken.

  • Ich konnte mich nie ganz von den negativen Gedanken befreien, dennoch geht es mir heute auf jeden Fall besser als vor einigen Jahren und ich komme zurecht. Auf Twitter teilen
  • Das Artwork der EP zeigt Regentropfen auf einer Windschutzscheibe, aber darauf auch einen Schmetterling. Etwas Schönes nach einem Wolkenbruch, eine Art Katharsis. Auf »Ohne mich« geht es explizit um deinen täglichen Struggle und depressive Tiefs. Entspricht das Cover heute deiner inneren Stimmung?

  • Eigentlich ist das eine dreckige Windschutzscheibe mit einem Schmetterling. Das Bild von Josselin wurde nicht extra für die EP fotografiert, aber als ich es gesehen habe, war eigentlich direkt klar, dass es perfekt passen würde, weil es genau meine Stimmung trifft. Man ist in dem ganzen Dreck gefangen zwischen alten Gewohnheiten und depressiven Phasen, aber es gibt diese Momente dazwischen, die einem Hoffnung geben. Ich konnte mich nie ganz von den negativen Gedanken befreien, dennoch geht es mir heute auf jeden Fall besser als vor einigen Jahren und ich komme zurecht. Um es nochmal zu sagen: Nicht zuletzt durch meine Freunde und Familie – und durch Hunde!

  • Unter deinem Song »Automne« aus dem Jahr 2015 lautet die erste Frage eines Users: »Chizz, Brudi, wo bleibt das Album?« Ist das ein realistisches Szenario für die Zukunft? Was sind deine Pläne?

  • Ich kann nichts versprechen, aber wir arbeiten im Moment an mehr Output. Einige Features sind geplant, mit alten Bekannten und neuen Leuten. Aber wie realistisch ein Album ist, kann ich dir aktuell gar nicht beantworten.