Dessa »Als Künstler hast du eine moralische Verpflichtung«

Die Doomtree-Dame Dessa hat ein neues Album. Zur Veröffentlichung von »Chime« sprach Florian Weigl mit ihr über Orchester-Kollaborationen, Künstlerpflichten und die Naturwissenschaften.

Dessa

Vor gut dreizehn Jahre veröffentlichte Dessa ihre Debüt-EP und brach so mit Doomtree in den Underground. Mittlerweile ist Doomtree etablierter Mid-West-Player und Dessa längst mehr als eine Rapperin, mit einer der besten Stimmen und Melodien im Game. Nach »Parts Of Speech« im Jahr 2013 folgten Auftritte mit dem Minnesota Orchestra, sowie die Arbeit an ihrem ersten Essayband, der später in diesem Jahr über Dutton Books erscheint. Das neue Dessa-Album heißt »Chime« und natürlich geht die 36-Jährige auch damit auf Tour.

  • Ich möchte gerne mit dir zuerst über deine Kollaboration mit dem Minnesota Orchestra sprechen. Als du deine Stücke mit Andy Thompson für ein Orchester arrangieren musstest, was hast du Neues über deine Stimme und die Songs gelernt? 

  • Ich musste mit einem größeren Ensemble arbeiten, in dem Melodie wichtiger ist als Percussion. Im Rap ist die Snare immer sehr prominent und du weißt immer, wo der Beat ist. In vielen der neuen Arrangements gibt es diese wirklich leisen, feinen Momente, in denen die Violinisten ihre Instrumente zupfen, aber gleichzeitig auch diese mächtigen Walls of Sound, wo die Bläser und Cellos zusammenkommen. In beiden Fällen sind die melodischen Instrumente den perkussiven vorangestellt. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Anfangs tappte ich immer mit den Füßen oder tanzte über die Bühne, um nicht aus dem Beat zu fallen. 

  • Was ist für dich als Performer der Unterschied, wenn du mit einem Orchester spielst von einer Live-Band auf Tour?

  • Wenn du mit Band spielst bist du agiler – es ist einfacher miteinander zu kommunizieren und das Set zu wechseln. Würde ich das spontan mit dem Minnesota Orchestra versuchen, müssten 75 Leute durch ihre Noten blättern. Auf der anderen Seite hast du in dem Orchester diese enorme Zugkraft. Sie sind so gut mit dieser dynamischen Kontrolle, die du schwer in einem anderen Umfeld erzeugen kannst. Sie können in ein leises Wispern gehen, um sich dann einen Takt später mit Power aufzubauschen. 

  • Wieso kollaborieren Underground-Rapper seltener mit Orchestern als Kendrick, Jay-Z or Kanye? Musst du dich bereits etabliert haben, um diese Möglichkeiten zu bekommen? 

  • Alle müssen für ihre Zeit bezahlt werden! Du hast 75 Leute auf der Bühne, plus diejenigen, die die Show planen und organisieren und dutzende von Platzanweisern, Tontechniker und so weiter. Deswegen verstehe ich auch, warum Orchester sichergehen wollen, dass genügend Menschen zur Show kommen. Zu Beginn einer Karriere zieht man einfach zu wenig, um einen Orchestersaal zu füllen. Auch bei mir nicht. Dennoch gibt es ein paar coole Kollaborationen mit Kammerorchestern mit 15 bis 25 klassischen Musiker und Indie-Künstlern. Astronautalis haben mit einem Orchester in Wisconsin kollaboriert, dann gibt es auch noch das s t a r g a z e Orchester in Berlin, die mit Crescent Moon zusammengearbeitet haben. 

  • »Das macht mich nicht zu einer Heuchlerin, sondern zu einem Menschen.«Auf Twitter teilen
  • Auf deinem neuen Album »Chimes« denkst du viel über die Beziehung nach, die Performer mit ihrem Publikum haben, sei es in einem künstlerischen oder politischen Kontext. Sollten wir als Gesellschaft überdenken, was unsere Erwartungen an Schauspieler, Musiker und Performer sind? Erwarten wir zu viel? 

  • (überlegt) Nein, ich denke nicht, dass die Erwartungen zu hoch sind. Aber natürlich tragen wir in der Öffentlichkeit ein anderes Gesicht und sprechen mit einer anderen Sprache als im echten Leben. Menschen sind facettenreich. Wenn ich mit Freunden trinken gehe, fluche ich. Wenn ich ein Buch mit Grundschülern lese, würde ich niemals Schimpfwörter verwenden. Das macht mich nicht zu einer Heuchlerin, sondern zu einem Menschen. Ich finde, wir geben öffentlichen Personen manchmal nicht genügend Raum auch Mensch zu sein. Was ist schon dabei, wenn ein Politiker nach Mitternacht fotografiert wird? Er war nicht im Dienst und war mit seinen Freunden unterwegs. Solange er am nächsten Tag auf der Arbeit ist und seinen Job macht, interessiert es mich nicht. Davon abgesehen finde ich nicht, dass wir zu hohe Erwartungen an Künstler stellen. Künstler sind auch ein Teil dieser Gesellschaft, die gerade versucht, sich so gut wie möglich durch diese aufregenden Zeiten zu manövrieren. 

  • Ich frage auch wegen der Bedeutung der #MeToo-Bewegung im HipHop. Das war da weniger ein Thema als in Hollywood. Wann HipHop politisch ist und wann es nicht politisch sein soll, ist immer noch nicht so klar. 

  • Ja, aber es sollte Künstlern auch möglich sein, Musik zu machen, weil sie Musik machen wollen. Und nicht nur weil sie Aktivisten sind und Musik für ihren Aktivismus benutzen. Es muss Platz für Kunst um der Kunst Willen geben. Als Künstler hast du aber natürlich eine moralische Verpflichtung. Nur weil ich eine Künstlerin bin, kann ich mich nicht danebenbenehmen. Wir sind alle Menschen, wir müssen uns alle angemessen verhalten. 

  • »Die Grenze zwischen dem Sozialen und dem Politischen verschwimmt.«Auf Twitter teilen
  • Das bringt mich zu »Fire Drills«. Ich habe dich nie als politische Aktivistin gesehen, dieser Song ist dein politischster. Es beginnt auf dieser sehr persönlichen Ebene und formt sich dann zu einer größeren, politischen Message. War das eine bewusste Entscheidung?

  • Die Grenze zwischen dem Sozialen und dem Politischen verschwimmt. In »Fire Drills«, wie in den meisten meiner Songs, geht es mir darum, eine echte Perspektive auf die Welt zu geben – so wie ich sie verstehe und erlebe. Ich schreibe nicht oft darüber eine Frau zu sein. Wenn du meine Musik hörst, erkennst du an der Stimme, dass ich eine Frau bin, also eine weibliche Perspektive habe. Ich muss also nicht extra sagen: »Das ist die Sicht einer Frau auf Geld«, wenn ich über Geld rappe. »Fire Drills« ist inspiriert von meinen Reisen. Ich reise oft alleine und bin mir sehr bewusst, dass es in Reisebüchern all diese Ratschläge für Frauen gibt, die alleine reisen. Das finde ich ziemlich komisch. Es gibt keine Ratschläge für Linkshänder! Du hast in der Gesellschaft diese spezielle Rolle und musst diese ganzen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Mir ist lange gar nicht aufgefallen, wie es meine Energie in ganz kleinen Portionen durch die ständige Wachsamkeit geraubt hat, von dem Gefühl, mich ständig in Sicherheit befinden zu müssen. So ist das Leben. Wir geben Frauen und Mädchen ständig auf den Weg, dass sie auf sich aufpassen müssen und sich nicht verletzen lassen. Das ist eine ganz andere Message als: »Kümmere dich darum, dass dir etwas Positives widerfährt.«

  • Es setzt voraus, dass dir etwas Schlimmes passieren wird…

  • Ja, aber so ist wirklich das Mindset. Du spielst immer defensiv und nie offensiv. Statt etwas zu wollen und wirklich daran zu arbeiten, lehnst du etwas ab und versuchst, schlimmen Dingen aus dem Weg zu gehen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Rollen in einem größeren Ganzen. 

  • Ich würde gerne noch über deine Essays reden. Hast du sie immer als Memoiren geplant, oder hat sich das im Schreibprozess ergeben?

  • Für mich sind die Essays echt. Ich möchte diese Art von Kunst machen – egal ob beim Schreiben oder beim Musikmachen. Ich mag das Sachliche. Ich habe die Essays nie selbst Memoiren genannt. Aber für mich passt die Beschreibung. Die Geschichten sind alle echt. Welche Beschreibung da am besten passt, ist egal. Es handelt sich dabei nicht um meine Autobiografie. Ich erzähle Geschichten, die ich auf Tour mit Doomtree erlebt habe. Andere Geschichten handeln von meiner wissenschaftlichen Neugier. In anderen geht es darum, wie ich mich verliebe und wieder entliebe. Die meisten handeln aber davon, mit den Menschen von Doomtree unterwegs zu sein, die mittlerweile zum Teil meiner Familie geworden sind.

  • »Ich bin von Natur aus sehr neugierig.« Auf Twitter teilen
  • Woher kommt eigentlich dein Interesse an Naturwissenschaften? 

  • Weiß ich gar nicht. (lacht) Eigentlich ist das so grundlegend, dass mir gar keine gute Antwort einfällt. Das ist, als wenn du jemand fragen würdest, wieso ihm Karamell gut schmeckt. Weil der Scheiß halt einfach verdammt gut schmeckt! Man kann durch eine andere Brille auf die Welt schauen und sie entdecken. Ich bin von Natur aus sehr neugierig und die Naturwissenschaften liefern die besten Werkzeuge und Mechanismen für diese Neugierde. Ich versuche herauszufinden, wie diese Welt funktioniert und dafür stehen mir die Naturwissenschaften zur Verfügung, genau wie Philosophie und die Künste. Alle drei Sachen interessieren mich – weil ich damit die Welt und die Menschen besser verstehen kann. 

  • Du hast ja auch ein Event namens Heartbreakers gehostet. Da treffen Musiker und Wissenschaftler und performen und lektorieren abwechselnd. Du moderierst die Diskussion zwischen beiden.

  • Solche Events organisiere ich wahnsinnig gerne. Man kann vermeintlich nicht zusammenpassende Inhalte kombinieren – bei Heartbreakers war das Neurowissenschaft und traurige Folksongs. Das gleiche Konzept möchte ich wahrscheinlich nicht noch mal machen, aber Lust auf neue solche Events habe ich auf jeden Fall.  

  • Zum Schluß noch eine Frage zu Doomtree. Wie siehst du die Zukunft von Doomtree als Label und Kollektiv? Werden vielleicht neue Künstler dazukommen? 

  • Man soll niemals nie sagen, aber es würde mich sehr überraschen, wenn neue Leute zu Doomtree stoßen würden. Doomtree ist zu einem Kollektiv geworden, um die Kunst und die Projekte der Künstler dieses Kollektivs zu pushen.