Living Off Borrowed Time – ein Nachruf auf MF DOOM

MF DOOM

Am Silvesterabend dieses gottverdammten Pandemie-Jahres schickte mir ein Freund einen Link zu einem Instagram-Post von MF DOOMs Frau Jasmine Dumile. Offenbar ist der legendäre Rapper und Produzent bereits vor zwei Monaten gestorben, nämlich am 31. Oktober 2020. Eine Todesursache nennt Jasmine nicht, doch ihre emotionalen Worte sind eindeutig als Abschied von ihrem Mann zu lesen.

Ich erinnere mich daran, wie wir Anfang 2009 in der »Juice«-Redaktion, deren Leitung ich damals übernommen hatte, sein anstehendes Soloalbum »Born Like This« diskutierten. Wir entschlossen uns dazu, ihn aufs Cover zu nehmen, obwohl uns für die Geschichte nicht mehr zur Verfügung stand als ein paar Pressebilder und die vage Aussicht auf ein Telefoninterview. Das begrenzte kommerzielle Potenzial des Themas war uns klar, doch DOOMs kulturelle Wirkung war größer als ein paar langweilige Verkaufszahlen ausdrücken konnten. Zusammen mit zwei seiner wichtigsten Kollaborateure, Madlib und J Dilla, hatte er die HipHop-Idee in einer Zeit wiederbelebt, in der mir die HipHop-Industrie oft Kopfschmerzen bereitete.

Als junger Rapper nannte sich Daniel Dumile noch Zev Love X – es waren die frühen 1990er Jahre in New York und die Lehren der Five-Percent Nation allgegenwärtig. Später erfand er Figuren wie den jugendlichen Gangster Viktor Vaughn oder das außerirdische Reptil King Geedorah. Einige seiner größten Erfolge waren Kollaborationen mit anderen Produzenten auf Albumlänge – mit Madlib entstand 2004 das klassische »Madvillainy«-Album, mit Danger Mouse ein Jahr später das nicht minder erfolgreiche DangerDoom-Album »The Mouse and The Mask«. Seine selbstproduzierten LoFi-Beats machte er mit seiner »Special Herbs«-Reihe als Instrumentals zugänglich und lieferte damit jungen Rappern von Joey Bada$$ bis Earl Sweatshirt wichtige Inspiration.

Daniel Dumile wurde nur 49 Jahre alt. Biografische Details kennt man bis heute kaum, weil er sein Privatleben stets besonders geschützt hat. Man weiß, dass er als junger Mann seinen Bruder Dingilizwe »DJ Subroc« Dumile bei einem tragischen Unfall verlor. Gemeinsam mit ihm hatte er die HipHop-Crew KMD gegründet. Nach Subrocs Tod tauchte Dumile für ein paar Jahre in den Untergrund ab; als maskierter Rapper MF DOOM kehrte er Ende der 1990er Jahre auf die Bühne des Nuyorican Poets Cafés zurück, wo sich die progressive New Yorker HipHop-Szene traf. Sein neues künstlerisches Universum bastelte er aus den Marvel-Cartoons, Blaxploitation-Filmen und Radiosendungen seiner Kindheit zusammen, seine hörspielartigen Beats aus Samples von halbvergessenen Jazz-, Funk- und Soul-Platten. Sein kunstvoller, komplexer Reimstil inspirierte Horden von Nachahmern dank seiner unorthodoxen Flows und mehrdeutigen Metaphern.

Als einer der ersten Künstler brach Dumile mit dem unausgesprochenen Authentizitätsdogma im HipHop. Anstatt seine eigene Geschichte in ungebrochener Ich-Perspektive zu erzählen, bediente er sich beim Storytelling verschiedener fiktiver Figuren. In der Parallelwelt, die von den Superhelden und Superbösewichten seiner Kindheit bewohnt wurde, verarbeitete Dumile seinen Schmerz und seinen Verlust – so jedenfalls eine sich aufdrängende psychologische Lesart seines Werkes.

Als Schwarzer Mann hatte Dumile Unterdrückung und Ausgrenzung erfahren, nicht zuletzt durch die Musikindustrie. Von seiner eigenen Plattenfirma sollte er zum Schweigen gebracht werden; das zweite KMD-Album »Black Bastards« wollte Elektra wegen des »anstößigen« Covers und der militanten, rassismuskritischen Texte nicht veröffentlichen. Dumile sah das als Heuchelei und den wahren Grund in der mangelnden kommerziellen Verwertbarkeit. Im weiteren Verlauf seiner Karriere blieb er stets auf sicherer Distanz zur Major-Industrie und arbeitete vor und hinter den Kulissen nur mit einem engen Kreis von Verbündeten.

In seinen Aktionen und der Wahl seiner Kollaborateur*innen blieb Dumile stets unvorhersehbar – viele seiner angekündigten Projekte erschienen nie, für Konzerte schien er eine Zeitlang einen (oder mehrere) Doppelgänger angeheuert zu haben, Social Media boykottierte er lange Zeit komplett. Die letzte Dekade seines Lebens verbrachte Dumile, der gebürtiger Brite war und als Kind mit seinen Eltern nach New York gegangen war, in London. Offenbar hatten die amerikanischen Behörden ihn nach einer Europatournee nicht mehr ins Land gelassen.

Mit MF DOOM verlässt uns einer der größten musikalischen Visionäre unserer Zeit. Er war nie ein Superstar, sondern ein musician’s musician. Er wurde zutiefst respektiert – von anderen Ikonen wie Moodymann, Flying Lotus und Diamond D, die heute ihrer Trauer öffentlich Ausdruck verliehen, aber auch von kommerziellen Größen wie Jay Z und Kanye West. Generationen von HipHop-Fans werden sein Werk immer wieder neu entdecken. Dumile hinterlässt seine Ehefrau und ein Kind. Sein anderer Sohn Malachi starb 2017 im Alter von 14 Jahren. Die Umstände sind genau wie der Grund für seinen eigenen Tod unklar. Er hätte es vermutlich nicht anders gewollt.

In einem Interview hat DOOM einmal über den Tod gesprochen. Energie werde im Universum niemals erschaffen oder zerstört, erklärte er in diesem Gespräch; alles unterliege lediglich einem ständigen Wandel. Auch verstorbene Freunde oder Familienmitglieder seien nur unseren beschränkten Sinneswahrnehmungen nicht mehr zugänglich, trotzdem könne man weiterhin mit ihnen kommunizieren und sich mit ihrem Geist verbinden. »Es mag seltsam aussehen, so als würde ich ganz allein in einem Raum sitzen und lachen, aber ich lache mit Bukowski, ich spreche mit Dilla, ich spreche mit Sub.« Vielleicht ist das der beste Trost in diesen Stunden.