Anything goes –
ein Auszug aus »Rap im 21. Jahrhundert«

Rap im 21. Jahrhundert



Mit »Deutscher Gangsta-Rap« hat der Sozialwissenschaftler Dr. Marc Dietrich bereits einen wichtigen Band zu den hiesigen HipHop Studies herausgegeben. Mit »Rap im 21. Jahrhundert: Eine (Sub-)Kultur im Wandel« erscheint jetzt ein weiterer, der sich HipHop akademisch nähert. Die Beiträge beschäftigen sich unter anderem mit Deutschrap und Politik, Freestyle-Rap im digitalen Zeitalter sowie Drake und neuen Männlichkeitsbildern im Rap. Zur Veröffentlichung hat der transcript Verlag ALL GOOD exklusiv einen Auszug zur Verfügung gestellt. Im Kapitel »Anything goes – Weirdo-Rap, seine Wurzeln im analogen Untergrund und seine digitale Diffusion in den Mainstream« spricht ALL GOOD-Autor Stephan Szillus über die Outness im Rap und ihre Geschichte, also über die Typen, die nicht den herkömmlichen Rollenbildern des Genres entsprechen.

Rapper sind harte, maskuline Typen, die alles Feminine, Weiche verachten. So das in der Realität fußende Klischee. Dass HipHop als Kultur längst nicht mehr so eindimensional funktioniert, beweisen Künstler wie der Kalifornier Lil B, der offen mit Anspielungen auf Homosexualität spielt und eines seiner Mixtapes »I’m Gay« nennt ‒ früher ein absolutes Tabu im HipHop. Für Künstler wie ihn wurde vor einigen Jahren eigens der Begriff des »Weirdo Rap« ins Leben gerufen. Diesen Begriff brauchen wir nicht mehr. Erstens gibt es im HipHop-Untergrund schon sehr lange alternative Strömungen, die progressive Männer- und Gesellschaftsbilder vertreten. Und zweitens ist der vermeintliche »Weirdo Rap« zum neuen Mainstream geworden.

Wenn man sich heutige HipHop-Videos anschaut, stellt man fest: Die eindimensionale Visualisierung ist einer vielfältigeren Bildsprache gewichen. Auch die Rollenbilder der Künstler selbst beschränken sich nicht mehr auf die authentische Abbildung ihrer eigenen prekären Lebenswelt. Das stereotype Verständnis einer normierten Rapper-Persona wurde aufgebrochen. Rap ist Kunst, und Kunst darf alles. Die Zeiten, in denen sich das Image eines Rappers vor allem aus Machismo und Straßenkredibilität speiste, scheinen vorbei. Natürlich gibt es auch dieses Rap-Subgenre immer noch, doch die vermeintlichen »Weirdos« haben in weiten Bereichen die Kontrolle übernommen. Längst ist es angesagt, »anders« zu sein.

Dabei stammt die Bezeichnung des »Weirdos« aus dem überholten Gesellschaftsbild der High-School-Dramen der achtziger Jahre: Auf jeder Schule gibt es dort immer die schöne Cheerleaderin, die Abschlussballkönigin, und ihren identitätslosen Tross boshafter Freundinnen, die ihr einfach nur nacheifern möchten, nur eben nicht ganz so schön und beliebt sind. Dann gibt es natürlich die »coolen« Jungs, denen es eigentlich nur um ihre maskulinen Hobbys (Sport, Saufen, Autos) geht. Abseits dieser Rollenbilder gibt es die »Weirdos«, die Außenseiter ‒ die Bücherwürmer und Stubenhocker, die Schmächtigen und Unsportlichen, die empfindsamen Nerds. Rapper wollten allerdings lange Zeit keine Nerds sein, sie wollten Stärke und Coolness demonstrieren.

An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Rückblick in die Geschichte des amerikanischen Rap vor der Jahrtausendwende. In den 1980er Jahren hatten Run-D.M.C. die authentische Mode aus dem Ghetto auf die Bühne gebracht: Sie waren die Homeboys von der Straßenecke in Trainingsanzügen, Sneakers und Filzhüten (»Tougher Than Leather«). LL Cool J posierte als durchtrainierter Muskelmann und Frauenschwarm, die besten Rapper dieser Ära inszenierten sich als kritische Denker (Rakim), lässige Playboys (Big Daddy Kane) oder skrupellose Straßengangster (Kool G. Rap). Der Battle-Gedanke als inhärentes Definitions- und Abgrenzungsmerkmal des HipHop hatte seine Spuren hinterlassen: Man musste cleverer, tougher und gestählter als der Gegner sein, um im Großstadtdschungel zu überleben. Frauen spielten im HipHop zu dieser Zeit kaum eine Rolle, wenige Ausnahmen wie Roxanne Shanté oder Salt-N-Pepa bestätigen die Regel. Queen Latifah war eine der wenigen Frauen mit emanzipatorischer Agenda, die in der HipHop-Szene ernst genommen wurde.

In den neunziger Jahren gab es zwei Lichtgestalten, die das Idealbild des Rappers über Jahre prägten: The Notorious B.I.G. und Tupac Shakur. Beide bedienten auf ihre Weise das Klischee des harten Mannes aus der Unterschicht: Biggie als ehemaliger Drogendealer von der Straße (siehe N.W.A.), Tupac als martialischer Freiheitskämpfer und Sohn einer Black-Panther-Aktivistin (siehe Public Enemy). Beide waren technisch herausragende Rapper und hervorragende Geschichtenerzähler. Beide schrieben gelegentlich sexistische Texte, beide gerierten sich als Frauenhelden. Vielleicht ist es der Zeit geschuldet, in der sie aufwuchsen, doch ihr Bild von Männlichkeit war eingeschränkt und rückwärtsgewandt, wenn man auch Tupac zugutehalten muss, dass er hin und wieder von starken und stolzen Frauen wie seiner eigenen Mutter rappte (»Dear Mama«).

Bald bildeten sich alternative Künstler-Entwürfe zum omnipotenten Gangsta-Rapper heraus, im Prinzip seit den frühen neunziger Jahren. Als »Sündenfall« des hypermaskulinen und omnipotenten HipHop-Weltbildes kann das Album »3 Feet High and Rising« der New Yorker Rap-Gruppe De La Soul gelten. Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus der Inner City kamen die drei Schulfreunde aus Long Island nicht aus dem Ghetto, sondern waren Kinder des afroamerikanischen Mittelstands. Sie verstanden sich als Teil eines Kollektivs namens »Native Tongues«, zu denen auch noch die Jungle Brothers, A Tribe Called Quest, Monie Love und später die Leaders of The New School (mit dem Rapper Busta Rhymes) gehörten. De La Soul verwandten keine Mühe darauf, ihre bürgerliche Herkunft zu verschleiern. Sie rappten nicht nur über andere Themen als ihre Berufsgenossen aus den Projects, sondern sie erweiterten auch den ästhetischen und musikalischen Horizont des Genres.

Auf »3 Feet High and Rising« riefen De La Soul das »Daisy Age« aus, das Zeitalter des Gänseblümchens. Sie wollten ihre Gegner weder metaphorisch noch faktisch ermorden. Weder waren sie politische Agitatoren noch gefährliche Gangster-Typen, sondern einfach nur Nerds und Liebhaber der HipHop-Kultur. De La Soul machten sich im Booklet des Albums selbst darüber lustig, dass sie keinen »Parental Advisory Explicit Lyrics«-Sticker brauchten. Das Image der »HipHop-Hippies«, das sie und ihre Freunde aus der Native Tongues Posse aufgrund der afrikanischen Gewänder und umgehängten Peace-Zeichen verpasst bekamen, langweilte sie zwar selbst bald, doch für den Moment waren De La Soul ein Befreiungsschlag. Gerade weiße, europäische HipHop-Fans konnten sich mit ihrem unverkrampften und selbstreflexiven Ansatz identifizieren und legitimierten darüber auch ihre eigene Beziehung zu einer Subkultur, die sie weder als Urheber noch als Adressaten vorgesehen hatte.

Während sich also im Mainstream zu Beginn der neunziger Jahre der Gangsta-Rap durchsetzte, feierte man im Untergrund ein Gegenbild. Das galt sowohl für die Ost- wie für die Westküste, die beiden relevanten geografischen HipHop-Szenen dieser Zeit. In New York gab es die harten Burschen wie Nas, Jay-Z oder Biggie Smalls; auf der anderen Seite brodelte eine Bohème-Szene zwischen Jazz-Rap, schwarzer Consciousness und Afrocentricity: Bands wie A Tribe Called Quest, Digable Planets oder Gang Starr. Ein ähnliches Bild zeigte sich in Kalifornien: Zum aggressiven Gangsta-Rap von N.W.A., Dr. Dre oder Snoop Doggy Dogg gab es ab 1992 eine Gegenbewegung um Bands wie The Pharcyde, Souls of Mischief oder Freestyle Fellowship. Sowohl an der Ost- wie an der Westküste entwickelten sich lebendige Szenen um Spoken-Word- und Jazz-Cafés, in denen an manchen Tagen auch gefreestylet werden durfte: Man denke nur an das Project Blowed in Los Angeles oder die Lyricist Lounge in New York. Dabei agierten die Szenen noch nicht strikt voneinander getrennt, sondern interagierten durchaus miteinander.

Auch auf inhaltlicher Ebene wurde die altbekannte (African-)American-Dream-Erzählung des Gangsta-Raps (Stichwort »from rags to riches« mit Mitteln des Ghettos) durch neue Ideen ersetzt. Eine wichtige Figur war der Lead-Rapper der Ultramagnetic MCs, Keith »Kool Keith« Thornton, der sich als Solokünstler für beinahe jedes Projekt einen neuen Alias-Namen verpasste und etwa aus der Perspektive eines Gynäkologen aus dem Weltraum (»Dr. Octagon«) oder eines schwarzen King-Imitators (»Black Elvis«) rappte. Zeitgleich tauchte der Rapper Zev Love X, der zu Beginn der neunziger Jahre noch bei der Native-Tongues-nahen Formation KMD gerappt hatte, unter dem Pseudonym MF DOOM wieder auf und erfand sich als maskentragender Superheldenrapper neu. Ihm wird auch der Ausspruch »Keep it unreal« zugeschrieben, der als Widerspruch zum ewigen Authentizitätsdogma des »keepin’ it real« zu begreifen war. »Keepin’ it real« bedeutete nämlich nicht, in seinen Texten einfach nur die schlichte Wahrheit zu erzählen ‒ für die meisten HipHop-Fans standen diese Worte auch für ein eingeschränktes Kunstverständnis: ‚Real‘ war nur, wer eine gewisse soziale Herkunft vorweisen konnte und in der Regel ein archaisches Männlichkeitsbild vertrat. Dass ein Mittelstandskind streng genommen das »keepin’ it real« erfüllte, wenn es eben gerade nicht versuchte, wie ein harter Straßengangster zu wirken, wurde dabei gerne übersehen.

Zum Ende der neunziger Jahre agierten die HipHop-Szenen im Mainstream und im Underground weitgehend getrennt. Auf der einen Seite gab es den in Amerika besonders erfolgreichen Mainstream-Entwurf, der bis heute gerne mit dem »Bling Bling«-Ausspruch des Südstaaten-Rappers B.G. verbunden wird. Zu diesem Lager gehörten sowohl Shawn »Jay-Z« Carter, Sean »Puff Daddy« Combs und sein Bad-Boy-Imperium als auch Suge Knight und sein Death-Row-Label, daneben aber auch vermehrt neue Camps aus dem Süden wie das von Master P geleitete No-Limit-Label oder das von den Williams-Brüdern Baby und Slim gegründete Cash-Money-Camp. All diesen Labels und den darauf beheimateten Künstlern war gemeinsam, dass sie authentisch und glaubhaft von den Widrigkeiten ihres Daseins und ihrem sozialen Aufstieg berichteten. In ihren Texten und Videos ging es um tradierte Bilder von Hood-Authentizität, um Statussymbole wie teure Autos, Kleidung und Uhren, um schnelles Geld und leichte Frauen. Überhaupt spielten Frauen in dieser Konstruktion nur eine Rolle als willige Gespielinnen, die stets von ihren männlichen Mentoren und Gönnern abhängig waren ‒ siehe Lil’ Kim oder Foxy Brown, die sich im Schatten von The Notorious B.I.G. und Jay-Z bewegten.

Gleichzeitig war im Untergrund die Gegenbewegung erstarkt, die auf den oben beschriebenen Entwicklungen basierte. Inzwischen gab es unabhängige Labels, Vertriebe und Strukturen für Rap-Künstler, die sich nicht dem herrschenden und kommerziell funktionierenden Dogma unterwerfen wollten. Plattenfirmen wie Rawkus, Def Jux, Anticon oder Stones Throw wurden zu beliebten Refugien für HipHop-Fans in Amerika, Europa oder Japan, die sich mit dem eindimensionalen Rapper-Bild des Mainstreams nicht identifizieren konnten. HipHop-Künstler, die von den A&R-Managern der großen Labels als »weird« oder »unkommerziell« bezeichnet wurden, fanden langsam ein weltweites Publikum. Hier wurden rappende Frauen als eigenständige Künstlerinnen anerkannt, die es mit jedem männlichen Gegenpart aufnehmen konnten: Beispiele hierfür waren Untergrund-Rapperinnen wie Apani B oder Jean Grae, die wichtige Protagonistinnen dieser Szene waren.

Die Independent-Bewegung verlor um die Jahrtausendwende herum an Fahrt, weil auch sie wiederum zum Klischee verkam und manche Protagonisten ihre Werte als Dogmen und starre Regelwerke begriffen ‒ ein Verständnis, das der freien, kreativen Entfaltung von Kunst selten gut tut. Als zeitgleich das Internet seinen Siegeszug durch die Privathaushalte der westlichen Welt antrat, gewannen jedoch alternative, vermeintlich »weirde« Kunstentwürfe plötzlich neuen Raum und neue Verbreitungsmöglichkeiten. Nischenthemen und generell Andersartigkeit wurden im Netz tendenziell eher abgefeiert anstatt verpönt. Künstler, die durch das Nadelöhr der traditionellen, althergebrachten Musikindustrie niemals gepasst hätten, fanden durch das Internet ihr Publikum.

Schauen wir uns im amerikanischen HipHop der letzten fünf Jahre um: Zu den interessantesten Figuren gehörte etwa der Produzent und Rapper Tyler, The Creator, der in seinen selbstgedrehten Videos stets mit kunstvollen Schockmomenten arbeitete ‒ beispielsweise in »Yonkers« eine Kakerlake lebendig verschluckt, nur um sich danach zu übergeben. Einer der erfolgreichsten Rapper der letzten Jahre war Drake, ein ehemaliger Kinderschauspieler aus Toronto, der dem bis dahin vorherrschenden, hyper-maskulinen Rapper-Bild ein melancholisch-nachdenkliches Update verpasste. Drake arbeitet in seiner Musik mit starken R&B-Einflüssen ‒ eine Stilrichtung, die von weiten Teilen der Kern-HipHop-Community seit jeher als »verweichlicht« und »verwässert« betrachtet wird. Drake schreibt und singt Texte über Einsamkeit und Entfremdung, über Heimat und Heimatlosigkeit. Er will gar kein harter Bursche sein, sondern gibt den sensiblen Herzensbrecher und Frauenversteher, der mit dem Mädchen aus dem Stripclub am liebsten durchbrennen und ihr eine College-Ausbildung finanzieren möchte.

Drake bezog sich ganz eindeutig auf Kanye West, der bereits 2003 mit seinem Debütalbum »College Dropout« einen neuen Rapper-Typus entwarf. Im Verlauf der Neunzigerjahre hatten sich zwei Rap-Typen herausgeschält: Der bereits erwähnte harte, hypermaskuline Gangsta-Rapper und der »Backpack-Rapper«, der den Gangsta-Rap zwar mit Verweis auf die Frühgeschichte der HipHop-Kultur ablehnt, in seinem Habitus aber ähnlich regelkonform und traditionalistisch agiert. Kanye wollte beides sein (»first rapper with a Benz and a backpack«, so formulierte er selbst seinen Anspruch), doch er war viel mehr. Er kannte die Codes beider Welten: Die der Rapper aus der Unterschicht, für die er tagsüber Beats bastelte, aber auch die der Nerds vom College, das der Sohn einer Universitätsprofessorin vorzeitig verließ. Gerade diese Integrationskraft führte zu einer außerordentlichen Karriere, die beide genannten Rapper-Typen transzendierte. Noch heute ist Kuration seine große Stärke, wenn er beispielsweise abseitige Electronica-Kunst des venezolanischen Produzenten Arca auf einem HipHop-Album unterbringt, das sich eine Dreiviertelmillion Mal verkauft (»Yeezus«). Die Nerds lieben ihn gerade für die subtilen Hinweise darauf, dass er eigentlich immer noch einer von ihnen ist.

Natürlich zog Kanye West mit seiner Vorliebe für extravagante High-Fashion-Outfits bereits den Zorn jener auf sich, die Rap als eine betont männliche und straßenaffine Praxis mit einem entsprechend konservativen Dresscode deuten. Und selbstverständlich weicht die melancholische oder verträumt flirtende Pose von Drake genauso vom inszenatorischen Standardrepertoire ab wie seine Performance mit Turtleneck-Pullover im Video zu »Hotline Bling«, die fast so etwas wie einen kleinen Shitstorm in den sozialen Netzwerken hervorrief (vgl. Obst in diesem Band). Allerdings stehen sowohl Drake als auch Kanye West noch für relativ biedere, herkömmliche Rapper-Images, wenn man sie mit den echten neuen »Weirdos« des Genres vergleicht.

Young Thug aus Atlanta gilt seit einigen Jahren als großer Shooting-Star: Er färbt seine Haare, trägt jede Menge Piercings und enge Kleidung und löst in Auftreten und Ästhetik sowohl Genres als auch traditionelle Geschlechterrollen auf, vergleichbar etwa mit Prince in den 1980er Jahren. Dabei bezieht er sich als Vorbild auf Lil Wayne, den Paradiesvogel aus New Orleans, der sich selbst gerne als Außerirdischen oder Marsianer bezeichnete, auch wenn er die künstlerische Überinterpretation seiner Musik stets ablehnte (und durch diese intellektuelle Verweigerung eigentlich direkt einen Topos künstlerischer Selbstinszenierung fortführt). Die Rapperin Nicki Minaj tritt als männerfressendes Monster mit Comic-Schminke und Po-Implantaten auf, ihre Videos und Live-Shows gleichen opulenten Kostümstreifen.

In Deutschland ist die Szene noch nicht ganz so weit, doch die Diskussion wird heftig geführt. Wenn deutsche Gangsta-Rapper in Interviews konstatieren, dass es vielen Berufsgenossen an »Realness« und Authentizität fehle, dann ist damit oft zweierlei gemeint: Einerseits, dass es Rapper gibt, die sich ihre Gangsta-Geschichten nur ausdenken, ohne sie tatsächlich erlebt zu haben. Der Vorwurf lautet, dass sie sich damit ein fiktives Image erschaffen und damit näher an literarischen Autoren oder gar Protagonisten von Actionfilmen sind. Andererseits meinen sie aber auch, dass es Menschen gibt, die ihrer Meinung nach gar nicht erst für den Beruf des Rappers geeignet sind: Menschen, die nicht dem typischen Milieu entstammen, aus dem HipHop einst geboren wurde. Menschen, die nicht mit ihrem materiellen Reichtum protzen, weil es ihnen niemals an etwas gemangelt hat. Menschen, die Frauen nicht bloß zu willigen Sexobjekten degradieren, weil sie es nicht anders gelernt haben.

Während HipHop-Traditionalisten auch in Deutschland die Bewahrung eines Formats und seiner gelernten Geschichten einfordern, drängen seit Jahren neue Figuren in die Szene, die neue Geschichten mitbringen und HipHop primär als freie Kunst begreifen, in der zunächst einmal alles erlaubt ist. Inzwischen hat sich eine Kaste von Künstlern gebildet, die mit dem unscharfen Begriff des »Cloud-Rap«, der vor sieben bis acht Jahren zunächst für amerikanische, primär im Internet aktive Rap-Künstler verwendet wurde, nur sehr unzureichend und missverständlich beschrieben ist: Junge Künstler wie das Berliner Kollektiv Live from Earth und Rapper wie Yung Hurn, LGoony, Crack Ignaz oder Haiyti, die die Grenzen dessen, was HipHop bedeuten kann, aktuell neu ausloten und dabei auch verschieben. Im Kern geht es bei ihnen um Eskapismus und freien kreativen Ausdruck. Die meisten von ihnen lieben es, wenn sie von traditionalistisch veranlagten HipHop-Fans abgelehnt werden.

Die Vaterfigur aller Bewegungen, die in den letzten Monaten und Jahren unter Stichworten wie »Cloud Rap« verhandelt wurden, war der Amerikaner Lil B. Ursprünglich war er Teil der Rap-Kombo The Pack aus Berkeley in der Bay Area (einer Gegend, die immer wieder progressive musikalische Strömungen hervorbrachte), die mit dem Song »Vans« über einen in der Hood zu dieser Zeit nicht besonders beliebten Schuh für Skateboarder einen kleineren Hit landeten. Als Lil B zum Solokünstler wurde, begann seine Metamorphose zum Lieblingsrapper aller Internet-Nerds: Durch einen niemals abreißenden Strom von selbstgebastelten Freestyle-Mixtapes, Low-Budget-Videos und absurden Twitter-Nachrichten, in denen er stets von sich selbst in der dritten Person sprach, wurde Lil B zu einem Held der neuen Generation DIY.

Lil B prägte eine ganze Generation von Independent-Künstlern, die nicht mehr darauf wartete, von einer großen Plattenfirma entdeckt zu werden. HD-Kameras wurden immer günstiger, im Internet öffneten sich Kanäle wie YouTube und SoundCloud, die ein herkömmliches Vertriebsmodell nicht mehr zwingend erforderlich machten. Als Promotion-Tools nutzten junge Künstler die frühen Social-Media-Plattformen wie MySpace, später Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat. Meist ging dieser Do-it-yourself-Geist auch mit einer Ablehnung oder Erweiterung des klassischen Rapper-Rollenbildes einher. Lil B hatte mit seinem Mixtape-Titel »I’m Gay« provoziert ‒ auch wenn er in Interviews anschließend erklärte, selbst nicht schwul zu sein, sondern das Wort »gay« in seiner altertümlichen Bedeutung als Synonym für »happy« zu verwenden. Trotzdem ist ein solcher Titel in einer tendenziell homophoben subkulturellen Umgebung wie HipHop ein klares Statement. Kanye West und die Diplomats hatten rosa Polohemden salonfähig gemacht, Lil B spielte nun offen mit dem Wort »gay«, und Frank Ocean sprach kurze Zeit später offen über seine Bisexualität. Im Internet fanden diese Entwicklungen großen Beifall. Das Bewusstsein veränderte sich.

Was vor Jahren noch undenkbar schien, wurde durch das Internet plötzlich Normalität: Nerds und Freaks, Outsider und Marginalisierte bekamen eine wichtige Stimme innerhalb der HipHop-Kultur. Die Kunstform öffnete sich dadurch für andere Erzählstränge und Narrative als das ewig gleiche Ghettolied und die zwanghafte Betonung der eigenen Maskulinität. Lil B löste im Internet eine Welle von Nachahmern aus, die von der Leichtigkeit seiner Musik und der Einfachheit seiner Videos angestachelt wurden. In Schweden adaptierte der damals 16-jährige Yung Lean seinen Sound und seine Ästhetik und wurde damit zum bekanntesten »Cloud-Rapper« Europas. In Österreich zeigte sich Yung Hurn inspiriert dazu, improvisiert wirkende Low-Budget-Videos zu drehen und unterhaltsamen Drogen-Rap zu produzieren. Lil B und Yung Lean nennt er als wichtigste Inspiration zu Beginn seiner Karriere.

Während sich Lil B und seine Epigonen als kreative Freigeister gerierten, wurde es bei einem anderen Schlag Künstler populär, sich wie eine überlebensgroße Comic- oder Actionfigur zu inszenieren. Im Unterschied zu den frühen Super-Muskelmännern wie LL Cool J war es jedoch inzwischen erlaubt, sich dabei aus dem engen Korsett der eigenen biografischen Rahmenhandlung zu befreien. Ganz in der Tradition von Kool Keith oder MF DOOM sehend, legte sich die aus dem Ghetto von South Jamaica, Queens stammende Nicki Minaj verschiedene Alias-Figuren mit eigenen Namen und Akzenten zu, darunter Roman Zolanski, einen homosexuellen Mann mit orangem Haar aus London.

Die Diskussion um das »Keepin’ it real« ist durch die neuen Möglichkeiten von Internet und Social Media jedoch keinesfalls verstummt, sondern vielmehr noch angeheizt worden. Progressivere Geister als die oben beschriebenen Traditionalisten geben nunmehr die neue Losung aus, es sei im HipHop für eine authentische Performance nicht mehr zwingend erforderlich, dass der Sprecher das Erzählte tatsächlich erlebt habe, sondern dass man es ihm abkaufe ‒ gegen diese Form von »Entertainment-Rap«, wie diese Strömung von Kritikern verächtlich genannt wird, hegt sich selbstverständlich starker Widerspruch aus der Riege der Traditionalisten. Der deutsche Rapper Megaloh brachte seine Definition von »Realness« auf den Punkt, als er in dem Song »Rap ist« zusammenfasste: »Einzige Mucke, wo man das, was man sagt, auch verkörpern muss«.

Auf der anderen Seite gibt es die mehrheitlich jungen Vertreter einer »Anything Goes«-Mentalität, die achselzuckend weiter ihre YouTube-Kanäle, Snapchat- und Twitter-Feeds bespielen. Immerhin lässt sich jedenfalls klar konstatieren, dass sich HipHop aus der selbstverordneten Authentizitätssackgasse befreit hat. Durch das Internet ist der neue, andersartige »Weirdo Rap«-Entwurf zu einer globalen Bewegung geworden, seine Ästhetik und seine Inhalte sind längst in den Mainstream diffundiert. Ohne das Internet, ohne Social Media und die Demokratisierung der Vertriebswege in der Musikindustrie wäre diese Entwicklung nicht so schnell in dieser breiten Form passiert.

Selbstverständlich ist HipHop als lautes, aggressives Sprachrohr für Minderheiten nach wie vor relevant. Doch die permanente Überzeichnung und Übersteigerung männlicher Egos drohte, die HipHop-Kultur in ihrer Außenwirkung der Lächerlichkeit preiszugeben. »When keepin’ it real goes wrong« hieß einer der lustigsten Sketche des US-Comedians Dave Chappelle. Wenn das Internet eine Idee im HipHop verankert hat, dann die der Gleichberechtigung. Frauen dürfen rappen. Mittel¬standskinder dürfen rappen, Veganer dürfen rappen, Skater dürfen rappen, Rocker dürfen rappen, vermeintliche »Softies« dürfen rappen. Und sie alle finden ein Publikum, wenn sie ihre Narrative überzeugend genug vermitteln. Mit Juicy Gay gibt es inzwischen sogar einen jungen, deutschen Rapper, der offen mit homosexuellen Bildern spielt. Ob er selbst schwul sei, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Seine Kunstfigur ist es. Vor einigen Jahren wäre das mindestens so undenkbar gewesen wie das Outing eines Bundesliga-Profis. Für HipHop ist das wichtig ‒ zur Auslöschung der letzten Züge von Intoleranz in einer Kulturtechnik, die einst von Marginalisierten entwickelt wurde.