Producer’s Producer #6:
Cid Rim über Squarepusher
»Ich schätze, es muss das Jahr 2001 gewesen sein. Ich sitze bei meinem Freund Oliver zu Hause im Kinderzimmer, das sich schön langsam zu einem Musikzimmer verwandelt. Er ist letztens aus Amerika mit einem halb-akustischen E-Bass zurückgekommen, ich habe so seit knapp zwei Jahren das Schlagzeug für mich entdeckt, man spielt zusammen. Reason ist im Umlauf, man macht die ersten Tracks, zeitgleich wird viel HipHop gehört. Vor allem aber rollt man die Jazz- und Funkgeschichte von hinten auf: Man sucht, woher die Samples auf den Lieblingsinstrumentals kommen. Funk ist gerade ganz groß. Wer einen neuen Drumbreak findet, hat gewonnen.
Oliver hat soeben eine CD beim Saturn im Gerngross-Einkaufszentrum gekauft und legt sie aufgeregt in die Stereoanlage – und zwar in eine von diesen kleinen mit Mididisk-Fach, Fake-Hellholzverkleidung und vielleicht sogar einem fancy Anschluss für ein optisches Kabel wie sie jeder hatte Anfang der Zweitausender. Er skipt direkt vor zur achten Nummer und erklärt dabei begeistert und verwundert zugleich, dass die ganze Platte völlig scheiße, aber dieser eine Track brutalst funkig sei. Er habe die CD nur wegen dieser einen Nummer gekauft und ich müsse mir die Nummer jetzt sofort anhören. Aha? Okay!
Ein weirdes Fusion-Intro folgt. Ganz eigenartiger Sound, irgendwie viel zu viel Hall, komischer Hall. Ich check die Taktart auch nicht ganz. Ich glaube, es ist ungerade. Jedenfalls sind es echte Instrumente – so viel kann man sagen. Irgendwie Kirchenband auf Schwammerl. Aus dem Nichts leitet das Schlagzeug einen Tempowechsel ein. Große Fragezeichen auf meiner Stirn. Und dann geht es los. Nach 20 Sekunden beginnt die – immer noch (!) – funkigste Bassline der Musikgeschichte. Die ist so gespickt voll mit virtuosesten Ghostnotes und Synkopen, dass wir noch kurz zweifeln, ob das nicht doch ein Computer sei. Aber nein, ich bin mir sicher; man ist sich einig: Es ist ein E-Bass. Der Typ spielt das!
Über allem liegt eine zweite Stimme, die mit vier einfach Tönen alles abrundet. Als diese ausbricht und mit dem Bass unisono mitspielt, verliere ich kurz den Verstand. Beide spielen gleichzeitig eine Variation der Bassline, die noch mehr anschiebt, und sich die Intensität der auf uns niederprasselnden Ghostnotes hochschraubt, bis alles in einer kurzen Pause endet. Ich konnte nicht so schnell hören, wie der gespielt hat.
»Oida! Wie heißt der Typ?«
»Squarepusher!«
Die Nummer war »Freeway«.
Kurze Zeit später sollten wir bei einem unserer ersten echten Gigs über die selbe Nummer mit Schlagzeug und Wurlitzer spielen. Und darüberhinaus die komplette Diskografie von eben diesem Tom Jenkinson nachhören.
Squarepusher war für mich der erste, der elektronisch produzierte Musik und instrumentale Musik richtig vereint hat. In einer Zeit, in der Gruppenzugehörigkeit bei Teenagern noch viel stärker über Musikgeschmack definiert wurde als heute, war Squarepusher ein Segen für mich. Er hat mit seiner Musik schlagartig fast alle musikalischen Interessen und Einflüsse, die ich hatte, unter einen Hut gebracht. Ich war bei einem HipHop-Gig in der Libro Music Hall und am nächsten Tag bei einem räudig spassigen Punkrock-Konzert von Freunden im Arenabeisl. Ich habe mich immer gefragt, ob es noch jemand gibt, der bei so unterschiedlichen Gigs abhängt. Später bin ich darauf gekommen, dass Squarepusher das selbe Problem hatte. Genregrenzen, noch viel klarer definiert als heute, aber auch die Unvereinbarkeit von Genres waren ihm genauso fremd wie mir.
Im Grunde kam seine Musik daher wie weirder Drum’n’Bass oder Jungle. Aber bei genauerer Betrachtung fand ich darin alles andere, was mich damals interessiert hat: angefangen bei 70er Funk und 70er Fusion über HipHop und Jazz bis richtig gestört noisigen Sachen, die eher an Free Jazz à la Art Ensemble Of Chicago erinnern. Und, last but not least, der Humor. Es gibt keine Squarepusher-Nummer, die ein schönes Ende hat. Das so genannte Squarepusher-Ende ist eher ein abruptes Stoppen der Nummer zu einem unüblichen Zeitpunkt – wie wenn bei einer Proberaum-Aufnahme eines der Bandmitglieder mitten in der Nummer sein läutendes Handy abhebt und alle verwundert aufhören zu spielen. Darauf folgt dann irgendein Geräusch am Bass, das meistens nach einem Furz klingt.
Seine bis zur Perfektion ausgereizten dramatischen Moll-Themen aus SH-101-Synth-Melodien sind für mich viel näher bei einer Bach- oder Palestrina-Fuge als bei Drum’n’Bass. Genauso sind seine Drumcomputer-Schlagzeuggewitter – mit ihrem Merkmal, sich praktisch nicht zu wiederholen – für mich viel näher an Buddy-Rich-Solos dran als an konventionellem Jungle. »Tundra« oder »Theme For Ernest Borgnine« sind gute Beispiele für diese Moll-Themen.
Eine 8-Track-Bandmaschine, Sequencer, Drumcomputer, SH-101, E-Bass – ich glaube, das war’s auch schon bald mit Geräten bei ihm, zumindest bei den frühen, für mich prägenden Platten. Ich habe mich immer eher davon ferngehalten herauszufinden, mit was jemand Musik macht. Mich hat das nie interessiert. Was mich viel mehr interessiert hat: Wie man aus einfachen Mitteln viel herausholt.
Die meisten Squarepusher-Platten sind in ihrem Sound jeweils in sich total geschlossen. Man merkt, er hat alles mit dem selben, eher minimalistischen Material und in relativ kurzer Zeit gemacht. Im Grunde reduziert sich seine Musik immer auf Schlagzeug, Bass, Akkorde, Melodie. Es klingt bei ihm eher wie eine Band, aber eben eine elektronische, die immer versucht, neue Sounds aus ihrem Instrument rauszuholen. Mit diesen eher minimalistischen Einschränkungen des Materials und der »Besetzung« ist immer die Musik selbst, die Komposition im Spotlight. Und die Komposition kann alles sein. Alle Einflüsse sind willkommen, Hauptsache es gefällt ihm. Darum geht es in der Musik von Squarepusher. Zumindest in meiner Interpretation. Oder anders, darum geht es mir in meiner Musik und er hat mich dazu ermutigt.
Später kam Tom Jenkinson dann immer wieder in Phasen, in denen er alle Instrumente selbst eingespielt hat. Das hat das Wesen der Musik im Grunde nicht verändert, sondern einfach nur organischer gemacht. Teilweise unglaubliche Nummern mit völlig eigenem Sound, den es so davor noch nicht gegeben hat. »Don’t Go Plastic« ist die vielleicht beste von diesem Schlag. Man beachte die Stellen, in denen das Schlagzeug rückwärts läuft! Hat das jemals irgendwer vor ihm so gemacht? Und dann noch – wieder aus dem Nichts! – der Funk-Mittelteil. Sein Umgang mit Rhythmik ist sowieso immer schon next level gewesen. Selbe Platte, andere Nummer: »Theme From Vertical Hold«. Bis ich gecheckt habe, dass das Gitarrenriff am Anfang eine 5er Verschiebung ist, sind Jahre vergangen. Honorable mention: »Chunk-S«. Der Drop bitte!! Oder »Go! Spastic«. Jungle, so wie er in einer Paralleluniversumskreuzung von »Space Odyssee 2001« und »Rick and Morty« klingt – da bin ich mir relativ sicher.
Nach einem letzten Hoch mit der EP »Venus No. 17« mit dem Track »Tundra 4«, in dem er nochmal sein brutales, elektronischeres Ich mit zwei 7- beziehungsweise 12-Minuten-langen Symphonien bis an die Grenzen der Komplexität und Intensität trieb, kamen dann ein paar für mich langweiligere Platten raus. Danach habe ich ihn dann nicht mehr so stark weiterverfolgt. Jetzt komme ich gerade drauf, dass ich eventuell in die zwei letzten Alben nicht mal reingehört habe. Das hier sollte ein guter Anlass sein, um das bald nachzuholen.«