David Stubbs: »Future Days«, das definitive Buch über Krautrock

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Krautrock wurde von Kanye West und von Madlib gesamplet, ist wesentlicher Einfluss für J Dilla wie für Radiohead. Die progressive Rockmusik aus der BRD der frühen siebziger Jahre lebt von repetitiven Drumbreaks und hypnotischen Synthie-Sounds. Nun hat der britische Musikjournalist David Stubbs eine ausführliche Würdigung in Buchform veröffentlicht: »Future Days« ist ein Trip in die Zeit von APO und LSD, von Hippies und Freidenkern, von alternativer Gegenkultur und kosmischer Musik.

Krautrock erfuhr in den letzten 30 Jahren immer wieder Wellen der Anerkennung durch junge Musiker und Bands, vor allem im Postrock, aber auch in der elektronischen Musik und im HipHop. Daher ist Stubbs auch nicht der erste Autor, der sich mit dem Thema beschäftigt: Julien Copes wegweisendes Buch »Krautrocksampler« von 1995 ist lange vergriffen und äußerst gesucht, doch der Autor wollte bislang keiner Neuauflage zustimmen (angeblich ist inzwischen eine in Planung). Im Jahr 2008 erschien »Krautrock: Underground, LSD und kosmische Kuriere« von Henning Dedekind. Mit »Future Days« ist nun eine für den Weltmarkt relevante Aufarbeitung im Umlauf.

Gleich zu Beginn erklärt Stubbs, warum der Begriff »Krautrock« von den Vertretern des Genres bis heute abgelehnt wird: Einmal weil es ursprünglich eine von britischen Journalisten pejorativ gemeinte Wortschöpfung war, aber auch weil sich viele von ihnen keiner einheitlichen Szene zugehörig fühlten. Doch selbst wenn Kommunen-Rocker wie Amon Düül II, Elektronik-Pioniere wie Tangerine Dream, New-Age-Hippies wie Popul Vuh und Stockhausen-Schüler wie Can bei genauerer Betrachtung gar nicht so viel gemeinsam zu haben schienen, so zeigten sie doch alle dem spießigen Post-Nazi-Deutschland den musikalischen Mittelfinger.

Stubbs schreibt erkennbar aus britischer Perspektive und beginnt ausufernd mit einer Beschreibung der frustrierenden Situation im Nachkriegsdeutschland, in dem die Protagonisten des Krautrock aufwuchsen. Ob in Berlin, Hamburg, Köln oder München, sie alle einte die Vorstellung, Tabus zu brechen und neuartige Kunst zu erschaffen, aber dabei auch den Geist der Studentenrevolte zu spiegeln. Obwohl viele der Bands komplett ohne Text und Gesang auskamen, so entstand der Krautrock-Urknall doch nicht ohne Grund im Jahr 1968, als Rudi Dutschke angeschossen wurde und die Außerparlamentarische Opposition ihren Höhepunkt erreichte.

Die Ära des Krautrock währte von 1969 bis 1975. Ein Teil der progressiven Szene vergaloppierte sich zwischen überambitionierten LSD-Märchen, kitschigem Hippie-Folk und furchtbaren Fantasy-Operetten. Die besten deutschen Bands dieser Zeit jedoch definierten einen neuen Stil progressiver Rockmusik, die sich nicht auf Einflüsse aus England oder Amerika bezog: Neu!, Can, Kraftwerk, Cluster oder Faust. Sie alle waren spätestens im Heißen Herbst 1977, als auch die Hippie-Bewegung und die APO ihr vorläufiges Ende fanden, entweder kreativ ausgebrannt, in andere (meist kommerziellere) musikalische Sphären entschwunden oder sie hatten der Musikindustrie komplett den Rücken gekehrt.

Heute hat »Krautrock« längst seinen negativen Beigeschmack verloren. Man ist sich einig: Nicht nur Postpunk, Postrock und elektronische Musik wurzeln in den Innovationen dieser Ära, sondern auch HipHop. Das stoische, repetitive Spiel des Can-Drummers Jaki Liebezeit war HipHop, bevor es HipHop gab. Die gleichförmige, loop-ähnliche »Motorik« von Neu! markierte die Blaupause für Breakbeat-DJing und HipHop-Produktion. In den Neunzigern ließen sich Bands wie Radiohead und Stereolab von Krautrock inspirieren, Beatmaker wie DJ Shadow, J Dilla und Geoff Barrow von Portishead entdeckten ihn als Samplequelle. Kanye Wests »Drunk And Hot Girls« ist ein modifiziertes Cover eines Can-Songs von der 1972er LP »Ege Bamyasi«, von der auch Christian Rich für Earl Sweatshirt gesamplet haben. Madlib kollaborierte jüngst sogar mit der mythischen Münchner Band Embryo.

Im Krautrock spielten psychedelische und rhythmische Elemente eine tragende Rolle, aber auch Techniken aus dem Freejazz oder der Neuen Musik von Stockhausen. Die Bands wurden daher primär in der Kunstszene rezipiert, fernab von Charts und Pop-Welt. Die Musikindustrie behandelte sie stiefmütterlich. Kleine Labels wie Ohr, Pilz, Kosmische Musik oder Brain widmeten sich der Bewegung – entweder ganz unabhängig oder auch finanziert von großen Konzernen, die wegen der Erfolge von Ausnahmebands wie Can oder Tangerine Dream ein Geschäft rochen. Nur verstanden sie die Künstler und ihre Ideen in den seltensten Fällen wirklich, und so wurden die wenigen Major-Deals in der Regel nach ein oder zwei Alben wieder aufgelöst.

In Deutschland stieß Krautrock generell auf wenig Gegenliebe, von der Kulturkritik wurde das Phänomen nicht im Ansatz ernstgenommen. Offene Feindseligkeit oder blanke Ignoranz waren die Reaktionen aus dem bürgerlichen Lager. Demnach erscheint es auch irgendwie konsequent, dass nun ein Brite die definitive Abhandlung zum Phänomen geschrieben hat. Mit viel Sachkenntnis und in unprätentiösem Stil erzählt Stubbs von den regionalen Zirkeln und Bands, ihren Ideen und Innovationen. Dabei vermeidet er einen überheblichen Anti-68er-Tonfall, sondern schreibt als kritischer Bewunderer dieser Musik. Seitenlang rezensiert Stubbs die klassischen Alben des Genres und bettet seine Urteile in die orale Historie der Entstehung dieser Platten ein.

Stubbs behandelt alle Schlüsselfiguren, die in den siebziger Jahren aktiv waren: Die erfolgreichen Bands wie Can und Kraftwerk, aber auch die wichtigen Produzenten und Toningenieure wie Dieter Dierks und Conny Plank oder aber der exzentrische Aktivist und Labelbetreiber Rolf-Ulrich Kaiser finden ihren Platz. (Die Geschichte dieses »kosmischen Kuriers« und Schülers des LSD-Papstes Timothy Leary gehört zu den absurdesten Episoden der Krautrock-Ära.) Nicht zuletzt erklärt Stubbs auch den Einfluss des Genres auf spätere Generationen, er beschreibt die zahlreichen Revivals und den zeitlosen Reiz, den ein Album wie »Ege Bamyasi« bis heute ausübt.

Mit »Future Days« erstellt David Stubbs ein umfassendes Kompendium einer musikalischen und sozialen Bewegung und lässt die spannendsten Anekdoten von den Protagonisten selbst erzählen. Für das Buch legte der Autor etliche Autobahnkilometer zurück, so traf er John Weinzierl von Amon Düül in München, Jaki Liebezeit von Can in Köln oder Jean-Hervé Péron von Faust in Hamburg. Die meisten der damaligen Musiker sind heute zwischen 65 und 75 Jahre alt. Nur wenige von den Lebenden sind noch aktiv. Es ist wichtig, ihre Geschichten jetzt zu konservieren. David Stubbs hat diese Verpflichtung erkannt.

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