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Ein Kommentar von Mathias Liegmal

Rap ist Pop und Pop ist Rap

Olexesh / Vanessa Mai

Eko Fresh, Dieter Bohlen und Yvonne Catterfeld. Vanessa S. und Ferris MC. Curse und Silbermond. Bushido und Karel Gott. Samy Deluxe und Nena. Bushido, Sido und Peter Maffay. Genetikk und Lena Meyer-Landrut. Olexesh und Vanessa Mai. Alle Jahre wieder wagen etablierte Rapper das Experiment und arbeiten mit Sängern und Sängerinnen zusammen, die szeneintern als Pop oder Schlager verschrien sind. Und alle Jahre wieder reagiert man im Deutschrap dann mit der fleißig antrainieren Empörungshaltung, die einst schon Fettes Brot und den Fantastischen Vier das Leben schwer machte. Im Hintergrund schwingt dabei nach wie vor jener Sellout-Vorwurf mit, der deutschen Rappern im Nacken sitzt, seit sie das erste Mal auf MTV zu sehen waren.

Im Jahr 2019 hat die Unterscheidung zwischen Rap und Pop deutlich an Trennschärfe verloren – sollte sie diese denn überhaupt jemals besessen haben. Rap ist schon seit Jahren kein musikalischer Geheimtipp mehr, sondern hat sich mühsam, aber beständig zum populärsten Musikgenre der Welt gemausert. Schon alleine von der Wortherkunft steht also fest: Rap hat nicht etwa die Pop-Musik überholt – Rap ist mittlerweile Pop-Musik. Doch auch fernab von Charts, Verkaufszahlen und Streaming-Erfolgen lassen sich Indizien dafür finden. Besonders lyrisch sind mittlerweile Verstrickungen zu beobachten, die eine klare Trennung, wie sie einst proklamiert wurde, nahezu absurd erscheinen lassen.

»Damals hat sich HipHop, wenn er kommerziell sein wollte, dem Pop angebiedert. Heute biedert sich Pop, wenn er cool sein will, dem HipHop an. Der offene Umgang mit Satzstrukturen, die ungenauen Reime, wie Umgangssprache in Texten verwendet wird – das haben sie sich alle ganz genau angeguckt«, beschrieb Tobi Tobsen kürzlich in einem Interview den Impact von Rap-Texten auf die Musikwelt. In ganz ähnlicher Weise äußerte Fatoni bereits im Dezember 2017 gegenüber der »Juice« die These, dass es Reime wie »Welt retten« auf »Mails checken«, wie sie Tim Bendzo auf seiner Debütsingle präsentierte, ohne den Einfluss deutscher Rap-Musik niemals in den musikalischen Mainstream geschafft hätten. Vergegenwärtigt man sich, dass Bendzko sich eine Zeit lang eine WG mit F.R. teilte, scheint diese Behauptung plausibel zu sein. Besagter F.R. übrigens, der mittlerweile als Fabian Römer von sich reden macht, ist seit Jahren fleißig als Ghostwriter aktiv – für Michelle, Namika, Johannes Oerding, Mike Singer und viele mehr. 



Aber auch andere Rapper haben sich mittlerweile als Songwriter für andere Künstler ausprobiert. So finden sich auf dem letzten Helene-Fischer-Album auch Credits für Sera Finale. Dieser schrieb zwischenzeitlich auch schon für Sasha, Wincent Weiss, Vanessa Mai, Yvonne Catterfeld und Namika, wobei die drei letzten Artists auch schon Schützenhilfe von Kitty Kat bekamen und Namika unter dem Namen Hän Violett einst selbst als Rapperin begann. Zudem war Kitty Kat auch schon für Glasperlenspiel tätig, für die Ali As ebenfalls den Stift gezückt hat. Und auch Olson gab kürzlich im ALL GOOD-Podcast an, hinter den Kulissen den einen oder anderen Text für andere Künstler geschrieben zu haben. Chima Ede wiederum schrieb am neuen Album der YouTuberin Shirin David fleißig mit. 



Dabei entstehen allerlei Kuriositäten. F.R. und Sera Finale beispielsweise können Credits auf einem Album für sich verbuchen, bei dem auch der Sohn von Rolf Zuckowski seine Finger mit im Spiel hatte – Helene Fischer macht es möglich. Besagter Sera traf übrigens bei einem Songwritercamp auf Klaus Capek, der einst der Band ohne Namen angehörte, und gründete mit ihm zwischenzeitlich die Band Keule. Mittlerweile gehören Rap, aber auch das Keule-Projekt der Vergangenheit an. Stattdessen schreibt Sera nun eben für Helene Fischer, aber auch für Michelle und Udo Lindenberg.



Parallel zu diesen Ghostwriting-Aktivitäten entwickelten sich mit der Zeit allerlei Künstlerfreundschaften. Wenn Döll auf einer gemeinsamen Tour mit K.I.Z. den Sänger Henning May kennenlernt und ihm anschließend beim Text für einen Song des aktuellen AnnenMayKantereit-Albums unter die Arme greift, hat das schon fast etwas Romantisches. Zeilen wie »Ich bin allein mit der weißen Wand / und meinem scheiß Verstand / Ich weiß nicht, Mann!« (aus »Weiße Wand«) lassen den rapeigenen Doppelreimfetisch dabei deutlich erkennen.



Bereits 2016 schrieben die Kollegen vom »Musikexpress«, dass besonders Casper und Marteria die Art und Weise, wie die Texte in der deutschsprachigen Pop-Musik geschrieben werden, maßgeblich beeinflusst hätten. Und hört man sich einen Song wie »Schönste Zeit« von Bosse an, so lässt die Bildsprache zwischen Polaroids, Nirvana und Küssen im Regen schnell Erinnerungen an »XOXO« wach werden. Dies mag natürlich Zufall sein, doch darf man bei aller Vorsicht vor falschen Unterstellungen doch zumindest annehmen, dass Axel Bosse, der mit Casper befreundet ist, mit dessen Werk durchaus vertraut sein.



Sollte Casper am Ende die Blaupause für das geliefert haben, was Jan Böhmermann in einem vielfach geteilten Beitrag am Beispiel von Max Giesinger kritisiert hatte und mittlerweile als Befindlichkeitspop verschrien ist? Der regelmäßige Turnus jedenfalls, in dem Monat für Monat neue deutschsprachige Künstler mit eskapistischen Balladen die Radiostationen des Landes und Playlisten und Compilations mit Namen wie »Deutschpoeten« oder »Deutschpop« erobern, ist beachtlich. Plötzlich sehnen sich allerlei Sänger nach Orten, »wo die Menschen aufhören, Fragen zu stellen« (aus »Lass uns gehen« von Revolverheld); nach frischer Luft, um »wieder ein bisschen atmen« (aus »Frische Luft«) zu können; und überhaupt danach, aus dem eintönigen und grauen Alltag ausbrechen zu können.



Wenn das schon nicht geht, so die Message, so kann man es sich mithilfe von Musik und Tanz doch wenigstens kurzzeitig vorstellen, wie zum Beispiel bei Max Giesinger: »Und wenn sie tanzt, ist sie wer anders/lässt alles los, nur das Gefühl/dann ist sie barfuß in New York, schwimmt alleine durch Alaska/springt vor Bali über Board und taucht durch das blaue Wasser!«. Klingt das nicht, als hätte da jemand die Schlagwörter aus »So perfekt« und »Alaska« einfach neu zusammengewürfelt? Lief »XOXO« nicht etwa nur bei Bosse im Wohnzimmer, sondern auch bei den Studiosessions von Max Giesinger?



Auch Caspers Kompagnon Marteria hinterlässt mittlerweile seine Spuren in der deutschen Pop-Landschaft und unterstützte die Toten Hosen zeitweise beim Schreiben ihrer Alben »Ballast der Republik« und »Laune der Natur«. Noch zu »Zum Glück in die Zukunft« predigte der Rostocker Interview für Interview die Regeln, die er und die Krauts für das Schreiben seines Albums aufgestellt hatten, darunter die Erkenntnis, dass die Personalpronomen »Er« und »Sie« zu unpersönlich sind und nur »Du« und »Ich« den Hörer wirklich berühren würden. Hört man sich nun Singles wie »Tage wie diese« oder »Wannsee« an, erkennt man Marterias lyrische Maxime problemlos auch in den Hosen-Songs wieder. Der Titelsong des 2012er-Albums »Ballast der Republik« war sogar ursprünglich als Marsimoto-Song gedacht.

Doch der lyrische Einfluss ist bei weitem keine Einbahnstraße. Parallel dazu bedienen sich auch zahlreiche Rapper beim Schreiben mittlerweile an Techniken, die vormals eher der Pop-Welt zugeschrieben wurden. So sind Casper und Marteria auch maßgeblich daran beteiligt, die Trennung zwischen dem Künstler und seinem lyrischem Ich in Rap-Texten etabliert zu haben. Das Realness-Dogma, das lange Zeit die Lyrics hierzulande bestimmte, wich einem Verständnis, nach dem Textinhalte zwar glaubhaft verkörpert, aber nicht mehr gelebt werden müssen. Songs wie »Auf und davon«, »La Rue Morgue«, »Lila Wolken« oder »KIDS (2 Finger an den Kopf)« zeugen von diesem Ansatz, die Parts auf »Alles verboten« oder »100x« kommen nicht ohne Grund fast vollständig ohne die erste Person Singular aus.

Auch andere Rapper haben sich geöffnet, wobei wir »Raop« getrost überspringen können, das die Verbindung schon im Namen trägt. Auch über Bausas »Was du Liebe nennst« und »Vagabund« wurden schon genug Worte verloren. Vielmehr sind es oft auch gestandene »Rap über Rap«-Veteranen, die durch eine neue Herangehensweise auf sich aufmerksam machen. Sido Solo-Songs »Astronaut«, »Bilder im Kopf« und »Tausend Tattoos« sind hier ebenso zu nennen wie seine Genetikk-Kollabo »Liebs oder lass es« oder »S auf der Brust« mit Kool Savas. Auch MoTrips »So wie du bist«, »Selbstlos« und die »Feuerwehrmann«-Single mit Ali As schlagen eine deutliche Richtung ein.

Pop und Schlager als musikgewordene Verkörperung des einstigen Feindbildes mögen in den Anfangstagen von Deutschrap durchaus hilfreich gewesen sein, um die eigenen Werte zu definieren und an Kontur zu gewinnen. Der Status Quo jedoch enttarnt entsprechende Grenzziehungen als hinfällig und überholt. Die Ränder sind verwischt: Rap ist Pop und Pop ist Rap. Dies wird sich in nächster Zeit auch nicht mehr so schnell ändern – auch wenn sich der eine oder andere Rapfan damit vermutlich erst noch anfreunden muss.