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Ein Kommentar von Marc Dietrich

Mixtapes, Alben und die Frage nach Qualität

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In diesen Tagen steht sie wieder bevor – die vermeintlich karriereentscheidende Frage, wo es hingeht. Die Frage von Kritik und Publikum, ob sie den (angeblich nötigen) Qualitäts-Sprung vom Mixtape zum »echten« Album schaffen werden: Action Bronson und Joey Bada$$ stehen mit ihren Alben in den Startlöchern. Der eine hat mit »Easy Rider« ein Brett vorgelegt, das sich nahtlos in die Reihe der »Hitsingles« der Tapes einreiht. Die rotbärtige Punchlinemaschine im Comedy-Modus bleibt ihrer Linie genauso treu wie der junge Brooklyner mit seinem innovativen 90er-Rapupdate. »Big Dusty« wird wahrscheinlich keine Hitsingle – wohl aber ein Statement in Sachen Motivation und Selbsttreue.

Interessant dabei: Joey Bada$$ hat bislang kein einziges offizielles Album releast. Bronson legte nach dem offiziellen Debüt »Dr. Lecter« von 2011 zunächst wieder nur Tapes nach und ist gefühlt auf den Tape-Artist-Status abonniert. Beide touren aber als kollektive Hoffnungsträger einer New-York-Rap-affinen Gemeinde um die Welt. Zu amtlichen Eintrittsgeldern werden Clubs ausverkauft und nicht nur Auskenner-Medien dominiert. Beide haben bereits jetzt einen Abdruck in der Genre-Geschichte hinterlassen. Sie sind Stars. Überwiegend durch Gratis-Mixtapes – (fast) ohne Album.

Was beide Artists neben Beständigkeit also teilen, ist die Tatsache, dass sie am Punkt einer Entwicklung stehen, die seit ein paar Jahren mit der Bewertung von Karriereverläufen amerikanischer Rapper verknüpft ist – nämlich die Frage: Was kommt nach den Tapes? Diese von Berufs- wie Hobbykritikern oft gestellte Frage ist interessant, weil sie schon immer mit einer Unterstellung argumentiert: Ein »danach«, also die Veröffentlichung eines »echten« Albums, bedeutet etwas Anderes oder Besseres, als das was vorher war – die Tapes. Das vermeintlich minderwertige Tapeformat wird von vielen Fans und Kritikern noch immer dem »gereiften« Album untergeordnet. Bezogen auf die Qualität der Musik kann man an dieser normativen Unterscheidung aber schon länger zweifeln.

Tapes können zunächst nach ein paar formalen Kriterien bestimmt werden, die von den involvierten Akteuren abhängig sind: Wenn Künstler und Plattenfirma sagen, es handelt sich um ein Mixtape, dann tun sie das aus bestimmten Gründen: Sample-Clearance-Schwierigkeiten, die Steuerung von Erwartungshaltungen des Publikums (dazu komme ich noch), die Markierung der Nutzung von »Fremdbeats« oder vertriebswegbezogene Aspekte. Die Tatsache, dass etwas nicht nur digital veröffentlicht, sondern auf einen physischen Tonträger gepresst wurde, ist per se kein Kriterium für ein Album. Auch nicht unbedingt die Frage, ob es käuflich zu erwerben oder »for free« ist.

»Die grundsätzliche wertende Differenz ›Mixtape = eher minderwertige Spielerei / Album = hochwertig und erwachsen‹ lässt sich jedenfalls nicht mehr aufrechterhalten.«

Die Zeiten, in denen Künstler einen Achtungserfolg durch ein (!) Mixtape einfuhren, um dann durch kleine Klitschen zu touren und irgendwann mal einen Deal zu bekommen – dann folgten EP und die Debütplatte –, sind für US-Rap wohl fast vorbei. Heute werden mindestens drei bis x hochkarätige Tapes im gefühlten Monats-Rhythmus veröffentlicht, bevor nach Jahren mal das Album kommt. Mit Hitsingle und so. Seit einiger Zeit gibt es aber durchaus (MP3-)Tapes, die im Gegensatz zu früher weniger mit verrauschten, hingerotzten Freestyles über fremde Beats auskommen, sondern qualitativ hochwertig ein Ausrufezeichen setzen. Und damit die künstlerische Entwicklung bis zur Königsdisziplin »Album« ganz entscheidend prägen. Das kann auch eine Verlängerung dieser Anbahnungsphase bedeuten – ohne dass dies ein (kreativer) Nachteil sein muss. Gerade bei Bronson, der das Hinrotzen so meisterlich versteht, gibt es seit Jahren neben unterhaltsamen Späßen immer etwas »Albumtaugliches«. (Vielleicht ist bei ihm ja auch gerade das Gerotzte albumtauglich? Wir werden sehen…)

Die grundsätzliche wertende Differenz »Mixtape = eher minderwertige Spielerei / Album = hochwertig und erwachsen« lässt sich jedenfalls nicht mehr aufrechterhalten: Künstler wie Wiz Khalifa haben das mit zweifelhaften Alben und teilweise sehr guten Tapes unfreiwillig demonstriert. Auch die Zuwendung von Erstliga-Produzenten zeigt, dass das Tape eine enorme Aufwertung erfahren hat: Im Mixtape-Game der Datpiff-Ära bekommt ein Newcomer mal eben ein komplettes Alchemist-Backup (Bronsons »Rare Chandeliers«). Und wenn nicht, gibt es Inhouse-Produktionen, die ebenfalls in der oberen Liga spielen können, garniert mit ein paar Starproduktionen (Doom und Dilla auf Joeys »1999«).

Heute bekommt man drei Arten von Tapes: Erstens so etwas wie Compilations, die (Mini-)Hits durch ein bisschen Gebrüll, Gehauche, Gunshots oder anderem Gedöns zusammenhalten. Zweitens Tapes, die den ursprünglichen Charakter des Experimentier-Raums beibehalten. Auf diese Weise hat Bronson das Tape zumeist interpretiert. Solche Tapes sind eine Spielwiese des Kreativen und Launenhaften, sie sind das »Prequel« zum »echten Album«, das dann oft inspirationslos und breitenkonform nachgeschoben wird. Sie sind Kreativräume, bei denen nichts zusammenpassen muss und gerade in der Bewegung zwischen verschiedenen Genres und Popkulturzusammenhängen das noch amtierende Flaggschiff der Musikindustrie – das Album – dekonstruiert, ironisch gebrochen oder anderweitig anverwandelt wird. Eigentlich das perfekte Format für eine HipHop-Kultur, die stärker postmodern noch nie war. Das Mixtape, so könnte man weiter aus Sicht des fröhlich-intellektuellen Polarisierers sagen, ist der eigentliche Star unter den Formaten.

Das Tape besitzt gegenüber dem Album nämlich zahlreiche Vorteile. Mixtapes laufen unter dem Radar einer mit Sample-Klagen beschäftigten Anwaltschaft, die das klassische System der Zitation und Neukontextualisierung als HipHop-stilbildendes musikalisches Prinzip oft nicht anerkennt. Ohne Mixtape-Schutzzone hätte Evidence niemals ein Beatles-Tape machen können, uns wäre der wahnwitzige Phil Collins-Rip-Off von Bronson ebenso entgangen wie zahlreiche, höchstens »zarte«, Soulklassiker-Bearbeitungen der Ghostface/Raekwon-Fraktion. Man kann zu diesen Vereinnahmungen von Klassikern stehen wie man will – das Mixtape ist das Format, auf dem man es einfach mal machen kann.

Das Album hingegen ist ein Format, das mit bestimmten mehr oder weniger festen Erwartungen der Rezipienten assoziiert ist, die nicht gerade kreative Höchstleistungen anschieben müssen. Manche Fragen muss das Tape gar nicht befriedigen: Ist das Album konsistent – und wenn nicht, zumindest überzeugend inkonsistent/eklektisch? Wird ein inhaltlicher roter Faden deutlich? Klingt das Album »aus einem Guss«? All diese Ansprüche kann das Tape aufgrund der ihm zugeschriebenen Qualitäten ignorieren. Es ist eben »nur« ein künstlerisches Lebenszeichen, ein Einblick in aktuelles Material oder ein Teaser für das Album. Das vielleicht Paradoxe aber doch Einleuchtende bei der wertbesetzten Kategorisierung der Formate ist also vielmehr: Bei abnehmender Erwartungshaltung kann die künstlerische Qualität sogar steigen.

Eingeschliffene »Qualitätsprüfungsfragen« müssen konzeptuell gar nicht groß berücksichtigt werden. Die kulturelle Praxis für den Mut zur Lücke heißt ja ohnehin »Skippen«. Wer den Skit XY oder Part Z nicht mag, skippt, ohne irgendwas in Frage zu stellen – schon gar nicht das Tape. Oder lässt es einfach laufen, weil Tapes nun mal laufen. Befreit von dieser Last der Publikumserwartungen lässt sich für Rapper wahrscheinlich »freier aufspielen«, um es mal im Trainerjargon zu sagen. Jetzt lässt es sich noch mal diesen Sechzehner unterbringen oder endlich dieses komische Experiment raushauen und gucken, was die Leute so dazu sagen.

»Für den Szenestatus reicht schon fast das Tape. Für ein okayes Auskommen eher nicht.«

Wenn man so interessante Dinge auf diesen Tapes zu hören bekommt, wer braucht dann noch das Album? Viele! Denn einige der besonders oft heruntergeladenen Tapes sind – und hier sind wir bei der dritten Tapeform – eigentlich Alben. Die Big K.R.I.T.-Releases oder Kendrick Lamars »Section.80« etwa. Hier bekommt man de facto Alben unter einem anderen Etikett. Deutlich wird dabei auch folgendes: Die Unterscheidung von Album und Mixtape ist eine rein rhetorische, die den oft kontrafaktischen Qualitäts-Unterschied zwischen Formaten pauschal herausstreicht, allein um etablierte Ordnungskategorien zu stabilisieren. So bleibt Ordnung im Laden. Allerdings unter Inkaufnahme von Ordnungsschemata, die schon lange nicht mehr haltbar sind.

Haben wir es dann auch in einem szeneübersteigenden Maßstab mit einem längst überkommenen Format zu tun, wenn Tapes mit Albumqualität oder Kreativ-VÖs mit ein wenig Skipmaterial angeboten werden? Man muss hier wohl zweigleisig antworten. Was die Szene angeht: Vielleicht. Was die breite Masse angeht: Auf keinen Fall. Während Bronson sich noch sein Leben lang einer treuen, gar nicht kleinen, Gefolgschaft sicher sein könnte und auch Joey Bada$$ seinen New-York-Backbringer-Status im Glanze des Untergrundstammmediums zementieren könnte, bleibt das Album für die szeneübersteigende Relevanz bislang unverzichtbar. Nas brauchte mindestens »Illmatic«, Kanye ein »College Dropout« und zuletzt sogar Kendrick ein »good kid, m.A.A.d. city«, um für einen weltweiten Popmarkt relevant zu werden oder die Tür dahin zu öffnen. Der Durchschnittshörer hält sich nicht auf Spezialplattformen auf, sondern dort, wo die Musik für eine ganz große Masse archiviert ist. Bei iTunes oder Amazon – oder es wird überhaupt nur noch gestreamt, aber das ist eine andere Debatte. Für den Szenestatus reicht schon fast das Tape. Für ein okayes Auskommen eher nicht. Besser ist in jedem Fall auch noch das Instant-Klassiker-Album nachzuschieben (siehe Nas, Kanye, Kendrick). Für die große Pop-Relevanz und entsprechende Vergütung scheint es in jedem Fall noch immer das klassische Album zu brauchen. Viele brauchen das Album, um mitzubekommen, was einer von vielen im Szenezirkel so treibt.

Apropos: Die Generation, die in den Neunzigern mit Rap sozialisiert wurde, wird an dieser Stelle kritisieren, dass es sich doch eigentlich gar nicht mehr um Mix-Tapes handelt. Aus dieser Sicht stimmt das natürlich auch: Man findet aktuell eher selten gemixte, mit Cuts und Scratches realisierte Tapes von »echten« DJs. Das Mixtape heute ist über weite Strecken etwas anderes. Es hat einen anderen Status. Früher hatte das Tape die Funktion, den Hörer mit Exclusives und dem ein oder anderen neuen Track zu versorgen. Der DJ, der zumeist auch eine echte Leistung in Form von Skills zeigte, war dabei das moderierende Element innerhalb dieser exklusiven Radioshow. Das Artist-Mixtape, das DJ Drama und Co. etablierten, erfüllt aber eher die Funktion einer aktuellen Werkschau des Künstlers.

Der Punkt ist aber: 250.000 oder 500.000 Downloads innerhalb von Tagen stehen für eine beträchtliche Reichweite, die man mit Verkaufszahlen von Alben natürlich nicht immer ins Verhältnis setzen kann und darf. Das Tape ist dennoch zu einem herausragenden Requisit auf der weltweiten HipHop-Bühne geworden. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Odd Future, Wiz Khalifa, die A$AP-Jungs oder auch Freddie Gibbs ihren Status durch den Mixtape-Hustle erkämpft haben. Es muss neben der allesumspannenden Ausbreitung des Internets und dem offenkundigen Promo-Motiv einen weiteren Grund für die Konjunktur des Mixtapes geben – und der könnte eben künstlerischer und kulturwahrnehmungsbezogener Natur sein.

Was man sich aber bei der Diskussion von Tapes und Alben schenken kann: die Einteilung in eine Zweiklassengesellschaft von »nur« ein Tape und »immerhin« ein Album. Verlegenheitsetiketten aus den Nullerjahren à la »Streetalbum« ohnehin. Die Zeit, in denen Alben fast automatisch den nächsten zwingenden, entwicklungslogisch angezeigten Schritt in der Karriere eines Rap-Künstlers bedeuteten und seinen Sound »aufs nächste Level« hievten, sind wohl auch vorbei – wenn es diese Zeit überhaupt mal gab. Die hohe, spielerische, produktions- und inhaltsbezogene Qualität vieler Tapes liegt in seinem ihm noch immer zugeschriebenen Underdogstatus begründet – und der geht im Rap immer.

Als notorisch unausgeglichener kleiner Bruder des ach so erwachsenen Albums, macht er häufig die Moves, die in der Liga über dem Mixtape-Untergrund manchmal untersagt sind. Die echten Power Moves. Die Folge dieser formatbezogenen Unausgeglichenheit ist aber leider auch, dass man viel Unausgegorenes, Unhörbares und Belangloses bekommt. Manchmal aber auch echte Perlen, die so gut funktionieren, dass sie in verwandelter Form auf dem Album wiederzufinden sind und dem Künstler das geben, was er trivialerweise am Meisten braucht: etwas Eigenes. Und wenn man das hat, wird man zum »Easy Rider«. Kein Grund also, das Album zu verabschieden – das Mixtape aber erst recht nicht.