Zugezogen Maskulin »Wir sind eine Gang!« –
Zugezogen Maskulin live in Berlin

Tourabschluss der »Endlich wieder Geld«-Tour für Zugezogen Maskulin. Jan Wehn war im ausverkauften SO36 in Berlin und hat grim104 und Testo, den Support-Acts Juicy Gay und Die Shitlers sowie 650 enthemmten Fans zugeschaut.

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Am Abend vor Halloween ist es auf der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg so voll wie an jedem anderen Abend auch. Im Minutentakt rollen Touristenführer auf mit brummenden Boomboxes behangenen Fahrrädern vorbei und zeigen ihrer mit Helmen und reflektierenden Sicherheitswesten ausgestatteten Hauptstadtgaffergefolgschaft die angeblich alternative Amüsiermeile von Berlin. Ein dunkler BMW fährt vorbei und erzittert unter der Bassline eines KC-Rebell-Songs. Vor dem SO36 ist der Boden mit einem Gemisch aus Bier und Scherben heruntergefallener 0,5-Liter-Bierflaschen, Hüllen geknackter Sonnenblumenkernen und plattgetretene Flyern gepflastert. Drinnen werden Zugezogen Maskulin heute Abend das ausverkaufte Abschlusskonzert ihrer »Endlich wieder Geld«-Tour spielen. Aber noch wartet das – wohlgemerkt sehr interessante – Publikum draußen.

Da stehen unter anderem: junge, mützentragende Mädchen in teuren Turnschuhen an den Füßen und farblich darauf abgestimmten Beuteln auf den Rücken sowie funktionsbejackte Männer mit Halbglatze, aber auch Studenten aus dem 0815. Semester oder Scener mit grüngefärbtem Haupthaar. Tatsächlich könnte diese überoffensichtliche Unterschiedlichkeit der schlangestehenden Zuschauer nirgends mehr Sinn ergeben als bei einem Zugezogen-Maskulin-Konzert.

Cro, Casper oder Marteria haben Genregrenzen gesprengt und Rap so einer breiten Masse zugänglich gemacht. Testo und grim104 haben vielleicht schon mit »Kauft nicht bei Zugezogenen«, aber ganz sicher mit ihren beiden Solo-EPs und dem diesjährigen Debüt »Alles brennt« noch einmal gänzlich neue Impulse gesetzt. Mag sein, dass sich die Beats auf »Alles brennt« zu gleichen Teilen aus derzeit angesagten Versatzstücken der, sagen wir mal, Bass- und sogenannter Trap-Musik zusammensetzen. Es stimmt auch, dass das Duo in erster Linie rappt und dafür auf ein unerschöpfliches Arsenal an Reim- und Flowvariationen und abstruse Adlibs zurückgreift. Das Besondere ist: Zugezogen Maskulin nehmen diese musikalische Untermalung und Rapstilistik, die anderorts krampfhaft unter dem unkonkreten Sammelbegriff Trap verkauft wird, einfach als gegeben und haben mit »Alles brennt« vor allem ein Album gemacht, das deutscher Rap ganz dringend gebraucht hat. Weil sie dem von Luxusproblemen geplagten Wohlstandsrap aus der Mittelschicht wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geholt haben und sich der ungeschönten Gegenwart stellen. Klar, dass das nicht unbedingt den Deutschrap-Normalo ins SO36 treibt.

Auch klar, dass die beiden Support-Slots vor der eigentlichen ZM-Show kein klassisches Warm-Up in Form von HibbediHoppi-Handsport sind. Als das Licht angeht, betritt grim104 die Bühne und erklärt, man habe in Anlehnung an die Castivals, Caspers den letzten Sommer dominierende Großkonzerte, beschlossen, das Programm bei den eigenen ZMstivals ähnlich vielschichtig zu gestalten. Dann übergibt er das Mic an Juicy Gay, einen Rapper aus dem Umfeld von Money Boy. Juicy Gay ist, der Name deutet es schon an, der erste deutsche Rapper, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt. Seine Songs sind mal Interpretationen amerikanischer Drill-Rap-Hymnen, dann wieder charmante Schmusesongs, die er Szenegrößen wie Fler widmet. Auch am Freitagabend spielt er seinen ersten Song für einen bekannten Rapper. Mit Bucket Hat, schwerer Goldkette und ernster Miene erklärt Juicy Gay: »Ein guter Freund von mir ist gestirbt.« Gemeint ist der deutsche Dschihadist und ehemalige Rapper Deso Dogg alias Denis Cuspert, der in der letzten Woche bei einem US-Luftangriff auf die IS-Terrormiliz ums Leben kam. Nach einer Schweigeminute ertönt das Lied »Musik ist Haram«. Auch der zweite Song »Sace Sace« ist Deso Dogg gewidmet und zelebriert, getarnt als fluffiger R&B-Schunkler die Seelenverwandschaft zwischen Deso Dogg und Juicy Gay, die sich in erster Linie durch das Tragen von Kleidung aus dem mailändischen Modehaus Versace kennzeichnet. Juicy Gay spielt dann noch »1 Lied für die Skreet«, ehe Die Shitlers gute 20 Minuten Schrammelpunk runterrotzen.

Dann wird es kurz dunkel, ehe die Scheinwerfer zu den ratternden Snares und synthetischen Bläserfanfaren wild über die Bühne zucken und Zugezogen Maskulin mit »Endlich wieder Krieg« eröffnen. grim104 performt mit großer Gestik, mimischen Höchstleistungen und weit aufgerissenen Augen, während Testo mit ausgestreckten Armen durch die im Takt ausgestoßenen Nebelschwaden schreitet und auf seinem Hüftgold herumtrommelt. Gleich danach fungiert »Alles brennt«, der zweite Song des Abends, als Initiationsritual für das im schmalen, langgezogenen Konzerttunnel herumspringende Publikum. grim104 mimt dabei – wie im dazugehörigen Video – den fanatischen Führer und bewegt sich, einem bis unter die Schädeldecke mit Stimulanzien vollgestopften Nagetier gleich, auf der Bühne hin und her, schmückt jede seiner Zeilen mit schmeichlerisch-schaurigen Bewegungen bis zur absoluten Wahnsinnigkeit aus und leitet das Publikum dazu an, völlig enthemmt, willenlos und erschöpft die Parole »Ihr seid keine Fans, wir sind eine Gang!« zu rufen.

Danach spielen Zugezogen Maskulin »Oranienplatz«, jenen Song, in dem das Duo die dunkeldeutsche Abwehrhaltung gegen Asylsuchende ausformuliert und zu bollernden Bässen im Refrain immer wieder den Satz »Wir haben viel zu viel, um euch was abzugeben« skandieren. Es hat etwas Beängstigendes, wenn dieser Satz aus 650 lauten Kehlen ertönt – denn der kollektive, performative Akt kehrt für eine Millisekunde alles um. Hier bekommt auch der letzte Vollidiot eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn angestachelte Menschenmassen, perfide Parolen brüllen. Zugezogen Maskulin spielen beinahe das gesamte »Alles brennt«-Album und garnieren das Programm immer wieder mit Schmankerln: »Füchse 2015« ohne LGoony, dafür »Plattenbau O.S.T« mit Kenji415 an der verstärkten Geige, Solomaterial in Form von »Töte deine Helden«, »Frosch« oder »Dreck Scheiße Pisse«. Dazu eloquente Zwischenmoderationen, wobei insbesondere Testo den hemmungslosen Mob mit seinem tiefem Bariton als angenehm erdendes Moment immer wieder auf den bier- und schweißverklebten Boden der Tatsachen zurückholt.

Dort angekommen muss man ob dem zwischen den Songs dargebotenen Pausen-Talk der beiden nicht nur häufig schmunzeln, sondern bekommt dazu erneut eine Ahnung davon, warum diese beiden Typen eigentlich so wichtig für deutschen Rap und die Musikszene sind. Songs wie »Schiffbruch« oder »Rotkohl« und »Häuserkampf RMX«, die gegen Ende des Abends erklingen, sind so intensiv und voller starker Bilder, dass einem trotz gefühlten vierzig Grad die Gänsehaut gen Haaransatz hinaufkriecht und auch noch anhält, als man in der kalten Oktobernacht den Heimweg antritt.