Die Orsons Oettinger und gebankte Kalke – ein Studiobesuch bei den Orsons

Am Anfang war die Provokation: als Bartek, Kaas, Maeckes und Tua sich 2008 für »Das Album« zusammenrauften, wollten sie HipHop-Deutschland vor allem vor den Kopf stoßen. Zuvor erkämpfte Meriten als ernstzunehmende Rapper und musikalischen Anspruch warfen sie konsequent über Bord. Drei Jahre und ein paar Releases später fanden sich die Orsons plötzlich bei Universal wieder – ein Abenteuer, das mit »What’s Goes« demnächst in die zweite Runde geht. Für ALL GOOD besuchte Simon Langemann die Band im Studio.

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Ein Samstagabend im Oktober 2014: Maeckes beschließt seine Gitarrenkonzert-Saison im Rahmen des New Fall Festivals. Was er einst als dilettantisches Wohnzimmer-Experiment ins Leben rief, wuchs in der Zwischenzeit so sehr, dass sich in die Düsseldorfer Johanneskirche gar ein paar grölende Kids verirren. Mitten im Set schleicht Tua aus der Sakristei, um mit seinem Konsorten die Orsons-Abrissbirne auszupacken: »Vodka Apfel Z« – am vermutlich untauglichsten aller Schauplätze. Irgendwo dazwischen: das Hirngespinst, mich bei der »Rapband der Liebe« ins Studio einzuladen.

Sechs Tage später sitze ich in einem Go-Kart-ähnlichen Gefährt namens Twingo und lege am Rande der Schwäbischen Alb Höhenmeter um Höhenmeter zurück. Wolkenloser Himmel und 20 Grad machen das von pittoresken Provinzkäffern durchzogene Mittelgebirge zur reinsten Idylle. Kein Wunder auch, dass man mir nahelegte, das Orsons-Headquarter bei Tageslicht aufzusuchen. Ankunft, daher: kurz nach 15 Uhr. Herzlicher Empfang. Ob ich ernsthaft mein Navi zwecks Diebstahlschutz in den Kofferraum lege, fragt mich Tua. »Hier passiert nichts. Wenn überhaupt, dann schauen die Leute dich komisch an, weil sie dich nicht kennen.« Okay. Willkommen in Undingen, einem kleinen Teilort, mitten im scheinbaren Nirgendwo.

Was ich hier zu suchen habe? Der Reihe nach: Knappe drei Monate vor meinem Ausflug ins Grüne senden die Orsons in Form eines Tour-Trailers 70 Sekunden neue Musik über den Äther – eine zynisch selbstreflexive Maeckes-Strophe. Ein typisches Orsons-Bonmot als Hookline: »Dieses Jahr wird unser Jahr – seit 100 Jahren«. Ein durchaus nach Neudefinition klingendes Instrumental. Vor allem aber das erste Anzeichen für etwas, über das sich bis dahin nur rätseln ließ: einen »Das Chaos und die Ordnung«-Nachfolger ohne große Umwege. Die vier MCs vermieden es in Interviews lange, über dessen Machbarkeit zu sprechen, deuteten ihn mit der Zeit dann vorsichtig an, ohne ihn aber je offiziell anzukündigen.

Nun war klar: Ja, ein Album steht an. Zwar ohne Releasedate, aber immerhin schon mit dazugehöriger Konzertreise, gebucht für die Adventszeit. Anfang Oktober verschieben die Orsons allerdings sämtliche Dates aufs Frühjahr – und legen nahe: »Dieses Jahr« wird es doch nichts mehr. Man wolle es richtig geil machen, heißt es auf Facebook. »Und dafür brauchen wir noch etwas mehr Zeit.«

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Aber zurück auf die Alb. Undingen gehört zur Gemeinde Sonnenbühl, liegt circa 25 Autominuten von Reutlingen entfernt – und wer in Südwestdeutschland aufgewachsen ist, bei dem sorgt unter Umständen das nahegelegene Stichwort Bärenhöhle für Kindheitsnostalgie. Undingen hat ein Posthorn im Wappen. Undingen hat einen Reiterhof und einen Golfplatz, einen Netto und einen Getränkemarkt. Undingen hat gebankte Kalke – doch dazu später. Denn Undingen hat vor allem: das lautstumm-Tonstudio, in dem sich die Orsons wiederkehrend einmieten.

Gleich dessen Außendarstellung wird einem bewährten Tonstudio-Klischee gerecht: der Unscheinbarkeit. Das Reihenhäuschen teilt sich seinen Hof mit den Nachbarn und könnte ebenso gut eine mittelständische Kleinfamilie beherbergen – besäße es denn eine Klingel. Um seine Einladung zu unterstreichen, sich hier einfach frei zu bewegen und abzuhängen wie daheim, führt mich Tua erst mal durch die drei Stockwerke: im Erdgeschoss das in Tonregie und zwei Aufnahmeräume separierte Studio. Direkt darüber ein offener Wohnbereich, im zweiten Stock die Schlafzimmer. Hier und da liegengelassene Kleidungsstücke. So sei das eben, wenn man mit Bartek zusammenlebe.

Direkt unterm Dach entsteht indessen ein weiteres Studio. Überhaupt vermitteln manche Teile des Interieurs einen skurril provisorischen Eindruck. »Gangster-mäßig« nennt es Tua. Über eine alte Reutlingen-Connection verschlug es ihn einst in das Studiohaus. Heute scheint es dem Wahlberliner längst zur zweiten Heimat geworden. Dass hier nach manchem Solowerk auch die neue Orsons-Platte ensteht: eine logische Konsequenz. Jene Ideen, die die vier Mitglieder isoliert in Kreativzellen sammeln und in die Dropbox schmeißen, finden hier ihre Vollendung.

Oder eben nicht. Denn entgegen aller Hoffnungen auf unbeschwerten Arbeitsfluss gab es auch diesmal wieder so manchen Kampf auszufechten, wie mir Bartek in Crocs und ein Bauchtasche-, Durag- und Ali-Baba-Pants-rockender Kaas berichten. Im Wohnzimmer-Interview kurz nach meiner Ankunft strahlen die beiden ein recht ambivalentes Verhältnis zum beinahe gemeisterten Entstehungsprozess aus: einerseits Zufriedenheit – und die Überzeugung, eine durchweg großartige Platte geschaffen zu haben. Andererseits die endgültige Gewissheit, dass es ganz ohne Disharmonie nicht zu machen ist. Die Rede ist von mehrtägigen Kollektiv-Schreibblockaden und etlichen Song-Leichen, die der harten Orsons-Geschmackskontrolle zum Opfer fielen.

Tua macht sich unterdessen wieder an die Arbeit. Heute auf dem Programm: Cuts aufnehmen mit DJ Jopez, der seit der Ära »Das Chaos und die Ordnung« fest zur Liveband gehört. Ich passe die beiden bei der Arbeit am sentimentalen Song »Grün« ab, dessen C-Teil Jopez gerade per Serato mit Tua- und Maeckes-Zitaten bescratcht. Wiesen am Stadtrand, »so grün, dass nie wieder was so grün war wie da« und andere Bilder aus Jugendtagen beschwören die Strophen herauf: Skatende Kids, Liebe auf der Auto-Rückbank, Oettinger-Paletten von Penny Markt.

Moment mal. Oettinger? Bei Penny Markt? Da muss ich kurz einhaken (Markus Lanz voice): Das gibt’s dort doch gar nicht. Kurzfristige Verzweiflung, denn Urheber Maeckes ist heute nicht zugegen. Und wie will man so was schon recherchieren? Wir lassen Jopez und Tua dennoch in Ruhe weiterfrickeln und verbringen unsere Zeit mit dem, was eben entsteht, wenn man so in den Nachmittag hineinlebt: einer ausufernden YouTube-Session. Wir zelebrieren die brandneue Yelawolf-Single »Till It’s Gone« oder diskutieren das grenzwertig eingängige »Take Shelter« von Years & Years. Kaas hat noch nie von Jungle gehört, weiß dafür aber von seiner neuen Liebe zum Reggae zu berichten. Und Bartek schwärmt für London Grammar und deren Hit »Wasting My Young Years«, der ihn kürzlich betrunken zu Tränen rührte. Ein Fest.

Doch draußen kündigt sich früher der Abend an, als es das Sommerwetter vermuten lässt. Wohin mich die Anderen vor Einbruch der Dämmerung noch ausführen sollen, weiß Tua: »Auf’n Berg. Frag‘ Bartek nach ›gebankte Kalke‹.« Der wiederum scheint zunächst wenig begeistert, lässt sich mit besagtem Stichwort dann aber doch überreden. »Gebankte Kalke« scheint den Orsons wichtig zu sein. Irgendwas mit Geologie, anscheinend. Und wie auch der Albumtitel »What’s Goes«: eine der vielen Slangfloskeln unter engen Freunden. »Mann, der Typ ist so gebankte Kalke«, wird Bartek am Abend den exzentrischen Sänger einer jungen Hamburger Indie-Band verfluchen.

Am Fuße des außerhalb gelegenen Hügels sorgt eine Infotafel für begriffliche Klarheit – aber der tiefergehenden Recherche ziehe ich die Aussicht vom Gipfel vor. Kaas wendet sich meditierend der Ferne zu. Bartek betanzt vorm Abendrot seinen »Saudi Arabi Money Rich«-Ohrwurm. Und mir geht so langsam auf, welch angenehm abgeschiedenen Ort sich die Orsons mit Undingen ausgesucht haben. Warum unsere Konversation ausgerechnet hier auf die Verschwörungstheorien Xavier Naidoos oder Ken Jebsens schwenkt? Keine Ahnung.

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Zurück im Orsons-Camp bereichert Tua mein Aufnahmegerät um eine genüssliche Wutrede auf seine rappende Kollegenschaft, die er zwar eigentlich gar nicht als solche anerkennen möchte – Schweigen ist aber offenbar immer noch keine Option. Denn: »Bis zu einem gewissen Grad ist es halt wirklich lächerlich, was manche Rapper machen. Und wo manche Rapper schon denken, sie seien krass literarische Songwriter-Genies. Das ist so ein Haufen Basic-Scheiße«, echauffiert er sich.

Ebenso über den zwischenzeitlich zur Hyperaktivität aufgelaufenen Bartek, der sämtliche Themen nur noch mit einem Interview-Zitat besagten Indie-Sängers kommentiert (»Ist ja schon auch ‚n bisschen Exzess, ne?!«) – und den es daher vor unserem Gespräch auf den Balkon zu sperren gilt. Es gebe durchaus Momente mit dem mulmigen Gefühl, dass Tua Bartek gleich die Fresse poliere, wird mir Jopez später erzählen. Dass in all den vermeintlich ironischen Lästereien, all den Kabbeleien während Video-Interviews und all den Erzählungen vom temporären Hass untereinander zwar Überspitzung, aber eben auch mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit steckt: in solchen Momenten erahnt man es.

Was es unter diesen Umständen bedeutet, die einstige Vision von »geiler, intelligenter Popmusik« in runde Form zu gießen, lässt sich zusammenreimen: eigene Ideen ziehen lassen, Egos zurückstellen, Diskrepanzen überwinden. Denn das nächste Level ihres Schaffens peilt die Band ohne Wenn und Aber mit klanglicher Geschlossenheit an – und dieses hehre Ansinnen gelingt ihr mit »What’s Goes«. Daran lässt keine Zweifel zu, was mir Tua wenig später über die Studio-Abhöre vorspielt.

Noch immer transportiert die Musik Aufbruchsstimmung und Körperspannung in ansteckendem Ausmaß. Noch immer scheinen die Lieder vor Einfallsreichtum schier zu platzen. Nur erreicht einen das Ganze eben noch ein Stück weit fokussierter. So heißt es gerade bei höherer Schlagzahl: Explosivität durch Purismus. Wucht durch Entschlackung. »Es sind ja eigentlich hauptsächlich Drums und Bass«, bricht Tua den stilistischen Ansatz herunter und wirft im nächsten Atemzug eine Referenz in den Ring, die den Orsons bei der »What’s Goes«-Rezeption noch des Öfteren um die Ohren fliegen dürfte: M.I.A.

Deren Hang zum Song-immanenten Überraschungsmoment – »Da weißt du auch nie: Kommt da jetzt noch mal ein anderer Drumloop? Oder was passiert da?« – erkennt Tua auch in den eigenen Reihen wieder. Sorgsam eingestreute Tempo-, Beat- und Tonartwechsel sind die Konsequenz. »What’s Goes« prägt und bereichert jene Art von Brüchen, die schon »Das Chaos und die Ordnung« sperriger machten, als es sich der Major-A&R unserer bösen Träume vermutlich erhoffte. Der Legende nach habe Joe Rilla mal zu Kaas gesagt: »Bei den Orsons weiß man nie, was als nächstes passiert.«

Ein Statement, das sich seinerzeit wahrscheinlich auf die durchchoreografierte, im Endeffekt aber doch vogelwilde Live-Performance bezog – das heute aber selbst dort greift, wo mit Tuas Kumpel Maxim ein Prototyp des Popsängers als einziges Feature um die Ecke kommt. Wenn sich ein Stück unter dem cheesy Namen »Lass uns chillen« ankündigt, sich mit souliger iPhone-Unplugged-Demo des Singer/Songwriters vorstellt, um letztlich mit einer Maeckes’schen 16-Takte-Abhandlung zu Globalpolitik und Dritte-Welt-Ausbeutung zu schließen – spätestens dann weiß man, worum es Tua mit Hilferufen wie diesem geht: »Ich will doch dran bleiben. Ich will bei einem Track nicht schon nach zehn Sekunden wissen, was die nächsten drei Minuten auf mich einprasselt.«

Anders als beim Vorgänger – »da haben wir uns einfach krass vollabern lassen« – bleibt diesmal auch der Mix in der Familie: Tua und Jopez mischen »What’s Goes« vor Ort ab. Es ist ausnahmsweise mal keine Plattitüde, wenn sie diesbezüglich von der Suche nach dem roten Faden erzählen, denn schließlich gehörte gerade dieser noch nie zum Orsons-Normalzustand. »Das Album« entstand 2008 in ein paar Tagen, »… die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Orsons« 2009, binnen vier Wochen. Für Konzeptgedanken: keine Zeit.

Beim Quantensprung »Das Chaos und die Ordnung« von 2012 waren die vier hingegen so sehr damit beschäftigt, ihren Ideenfluss auf ein nachvollziehbares und ernsthaftes Spektrum zu reduzieren, dass im Endeffekt zwar eine unfassbare Qualitätsdichte entstand – aber eben auch eine Platte, so heterogen wie das Bandgefüge. Tua, schonungsloser Selbstkritiker und Freund polemischer Statements, sieht das etwas drastischer: »Das letzte Album war ein furchtbarer Labelsampler.«

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Der Kreis schließt sich, als er mir »Grün« noch mal in voller Länge vorspielt. Ein Lied über jenen Moment, »in dem man merkt: Hey, ich bin gar kein Kind mehr.« Das bedeutet, in Musik übersetzt: ein zwischen Elektro-Pop und HipHop-Grooves oszillierendes Beatgerüst. Ein schwereloser und doch bedeutungsschwangerer E-Gitarren-Loop. Und einer dieser charakteristisch heruntergepitchten Tua-Refrains. Die überaus bildhaften Strophen: nach eigenen Angaben ein Ergebnis der ländlichen Umgebung. Stellenweise wecken sie gar Assoziationen zur 2012er Gegenwärtigkeits-Hommage »Jetzt«. Und um noch weiter zu gehen: Dies könnte das schönste Stück Musik sein, das die Orsons bis hierhin geschrieben haben.

Ja. Gut möglich, dass ich zur Übertreibung neige. Allerdings würde nichts anderes dem Sinnestaumel gerecht, den ich in diesem Moment verberge. Vermutlich gibt es auch keinen perfekteren Augenblick, seine Sachen zu packen und die Orsons in die Nachtschicht zu entlassen. Als ich mich vom Rest der Truppe verabschiede, beraten Bartek und Kaas gerade über das Abendmenü – und darüber, ob man 1,29 € auf iTunes investieren soll, um die neue Savas-Single »Märtyrer« zu hören.

Die Frage bleibt bis zu meiner Abfahrt ungeklärt. Ebenso wie die, ob Penny nun verdammt noch mal Oettinger führt oder nicht. Immerhin: Auf dem Weg finde ich den zu Unrecht als Pennerbier verschrienen Klassiker noch im Sortiment des lokalen Getränkemarkts. Als eine Stunde später die Kronkorken auf den Stuttgarter Randstein klappern, gibt es guten Grund, sich innerlich zurückzulehnen: die frühe Gewissheit nämlich, welches Album mich durch den Sommer 2015 geleiten wird.

Entstanden im Seminar Musik & Text am Institut Fuer Musik Und Medien Düsseldorf