Sin2 Der Wegbereiter mit der Talkbox (Original Chabos)

Unter dem Radar der deutschen HipHop-Öffentlichkeit existiert eine Sinti Rap-Szene. ALL GOOD-Autor Philipp Killmann hat ein paar ihrer Protagonisten besucht und interviewt. Teil 2 der »Original Chabos«-Reihe stellt Sinti-Rap-Vorreiter Sin2 vor.

Sin2

Anfang Dezember in Karlsruhe. Ein silberner Opel Vectra fährt zur Mittagszeit vor einem Hotel in Bahnhofsnähe vor. »808« ist natürlich in Anspielung an den Drumcomputer Roland TR-808 im Nummernschild zu lesen. Hinter dem Steuer sitzt Marco Guttenberger alias Sin2, seines Zeichens Musik- und Videoproduzent sowie Talkboxer und Rapper. Aus seiner Freude darüber, dass sich die Presse »endlich mal« für die Rolle der Sinti im deutschen Rap interessiere, macht er keinen Hehl. »Herzlich willkommen!«, sagt der 37-Jährige in badischem Dialekt und mit einem großen Lächeln im Gesicht. »Steig ein!« Vor einem Jahr wäre das Auto vielleicht noch ein 76er Classic Caprice gewesen. Aber dann, erzählt er, habe er den Chevrolet nach vielen Jahren verkauft, ohne das Auto, wie ursprünglich geplant, zum Lowrider umgebaut zu haben. Er sei schon lange ein »Lowrider-Freak«, früher noch mehr als heute. Folglich nannte sich seine Crew Anfang der Nullerjahre »Sin2 & Low Tschawe«. »Tiefe Jungs«, übersetzt er und lacht. Sin2 ist ein Sinti-Rap- und Gypsy-Funk-Vorreiter.

Als Ort für das Interview hat sich Sin2 seinen Arbeitsplatz ausgesucht: den »Rock Shop«, ein großes Musikhaus in Karlsruhe. Auf der Autofahrt dorthin lässt sich Sin2 über den Einfluss der Sinti aus, den sie, davon ist er überzeugt, zwar seit Anbeginn auf die Entwicklung von Rap in Deutschland gehabt hätten, was bislang aber nie gewürdigt worden sei. Die vielen Rapper, die sich am Romanes der Sinti bedienten – von Moses Pelham bis Haftbefehl – zeugen seiner Meinung nach eindeutig von der Bande, die zwischen Sinti und Deutschrap bestehe. Tatsächlich bestand diese Verbindung wohl vielmehr im Rotwelsch, über das die Sprache der Sinti, das Romanes, in die Texte der Rapper fand.

Im »Rock Shop« zeigen sich Sin2s Chef und Kollegen an diesem Montag nur mäßig überrascht, dass er an seinem freien Tag hier aufschlägt. Kommt wohl öfter vor. Er ist eng mit dem Musikhaus verbunden. Zunächst, noch in der Schulzeit, war Sin2 hier selbst Kunde. Nach seiner Ausbildung zum Mediengestalter Bild/Ton fing er an, im Rock Shop zu arbeiten. Heute ist er zuständig für den Aufbau und die Einrichtung von Musikstudios. »Hier, an genau dieser Stelle, habe ich ›Jeu his geu Tschei‹ aufgenommen«, sagt Sin2 in einem Zimmer, das heute zum Probehören dient und voller Lautsprecher ist. Früher habe sich dort ein Aufnahmeraum befunden. Spätestens jetzt ist klar, weshalb das Interview hier stattfinden soll.

»Jeu his geu Tschei« (Sie war das Mädchen) war der erste Track, den Sin2 mit Low Tschawe, bestehend aus seinem späteren Schwager Bybo und seinem Cousin Smooth G(ypsy), aufnahm. Er erschien 2001 und damit im selben Jahr von Mr. Tomkats »Sintengro Baschepen«. Wann genau welcher Track zuerst in Umlauf kam, kann weder Sin2 noch Tomkat heute mit Gewissheit sagen. Fakt ist aber, dass »Sintengro Baschepen« der erste auf Romanes erschienene Rap-Song ist, der auch professionell veröffentlicht wurde. Dagegen habe sich »Jeu his geu Tschei« innerhalb der Sinti-Community über die Internetplattform Zigo.de nur unter der Hand, aber dafür wie ein Lauffeuer verbreitet. »Der Song lief auf jeder Party und in jedem Auto«, erzählt Sin2. Sinti aus ganz Deutschland, aus Österreich, der Schweiz, Frankreich und anderen Ländern hätten Anfragen für Auftritte an sie gerichtet. Angenommen hätten sie jedoch nicht eine. »Wir waren klassisch überfordert, weil wir glaubten, die Erwartungen der Leute nicht erfüllen zu können«, erklärt Sin2. Trotzdem nahmen sie noch eine EP auf: »Go ziero wella« (Die Zeit wird kommen). Aufbewahrt wird das Minialbum heute nicht zuletzt im Archiv der öffentlich-rechtlichen Hörfunkanstalt Sveriges Radio in Schweden, die, eigenen Angaben zufolge, über eine der größten Musiksammlungen der Welt verfügt und bei Sin2 seinerzeit um Zusendung des Minialbums bat. Einzelne Songs der EP finden sich noch auf Sin2s Soundcloud-Seite.

In einem kleinen Zimmer neben dem Probehörraum zieht Sin2 seinen schwarzen Parka aus, setzt sich und bietet seinem Gegenüber ein Getränk an. Er selbst öffnet sich eine Flasche Apfelschorle und legt einen Schreibblock mit Notizen auf den Tisch, die im Interview auf keinen Fall fehlen sollen. Zum Beispiel, dass viele Rapper heute Romanes-Begriffe wie »Tschei/Chai« falsch verwenden würden oder dass Sinti und Roma verschiedene Völker seien. Eine Zeitlang engagierte er sich im baden-württembergischen Verband deutscher Sinti und Roma in Mannheim. Sein Künstlername ist ein offenkundiges Bekenntnis zu seiner Identität. »Sin2 ist ein Wortspiel: Sinto, aber statt des ›to‹ ein ›two‹, das hört sich cooler an, und so ergab sich ›Sin2‹«, erklärt er.

Sin2 und seine Familie sind in Karlsruhe und Umland tiefverwurzelt – der NS-Zeit zum Trotz. Die Familie seines Uropas mütterlicherseits habe als eine der wenigen Sinti-Familien den Holocaust vollständig überlebt. Der Grund: Sein Urgroßvater war Telegrafenmastbauer. Da die Partisanen in Polen Telegrafenmasten immer wieder umgeschlagen hätten, seien die Nazis auf Sin2s Uropa angewiesen gewesen. Nach dem Krieg zurück in Karlsruhe wurde die Familie dann in der Killisfeld-Siedlung in Durlach in »besseren Baracken« untergebracht. Dort wuchs auch Sin2 auf, seine Eltern leben dort bis heute. Dem Killisfeld sei ein zweifelhafter Ruf vorausgeeilt. »Die Siedlung war verpönt«, sagt er. »Trotzdem hatte ich eine tolle Kindheit.« Seine Eltern legten bei ihren Kindern großen Wert auf Bildung. Mit Erfolg. Auch weil Sin2, wie er sagt, in der Schule als Sinto auch bei weitem nicht so schlimm diskriminiert worden sei wie seine Eltern, deren Schulbildung darunter gelitten habe.

Von Haus aus wuchs Sin2 mit Musik aus. Sein Vater war nicht nur aktiver Bassist, sondern auch leidenschaftlicher Vinyl- und Kassettensammler. Als Sin2 viele Jahre später Biggies »Another« hörte, erkannte er in dem Song deshalb sofort »Another Man« von Soul-Sängerin Barbara Mason wieder, auf dem der Track basierte. Ein Schlüsselmoment. »Ich dachte ›Oh, shit!‹ und begriff, wie weit das zurückgeht.« Schon als Kind schnappte er von den in Karlsruhe stationierten US-Soldaten Stücke wie »Friends« von Whodini auf und erkannte sie später in Nas »If I Ruled The World« wieder. Ältere Cousins versorgten ihn mit Tapes von Kool Moe Dee. Ein weiterer Einfluss sei New Jack Swing gewesen, auch R’n’B, der ihm vielleicht sogar noch wichtiger als Rap-Musik sei. Über einen DJ, Mr. Mellow, den damaligen Freund einer seiner Cousinen, bekam er weitere Einblicke in HipHop und auf einer Videoaufnahme des DMC DJ Championships zum ersten Mal Zapps »More Bounce To The Ounce« zu hören – und damit die Talkbox. Noch so ein Schlüsselmoment.

Denn nach dem Wunsch, DJ zu werden, wurde die Talkbox und mit ihr die Musikproduktion zu Sin2s Leidenschaft und größtem Antrieb. Für 600,- Mark kaufte er sich im »Rock Shop« eine Talkbox und stand nun vor der Herausforderung, ihr einen Ton zu entlocken. Ein schwieriger Weg, wie er sagt. Er war erst 16 Jahre alt und kannte noch dazu niemanden, der ihm die Talkbox hätte erklären können. Sein Onkel versorgte ihn mit einem Keyboard (Roland Juno 60) und einem Synthesizer (D 50), technisches Gerät, um die Talkbox überhaupt anwenden zu können – und heute gilt Sin2 für viele Sinti-Rapper nicht nur als Sinti-Rap-Pionier, sondern auch als einer der der besten Produzenten und als einer der besten, wenn nicht der beste Talkboxer. »Ich würde behaupten, dass es niemanden gibt, der die Talkbox besser beherrscht als er«, meint Wesley von The Looneys, einer Sinti-Rap-Crew aus Düsseldorf.

Nach der EP mit Low Tschawe habe er als Musiker dann überwiegend allein gearbeitet. Durch Funkmaster O-Zone, DJ und Produzent aus Köln, habe er zudem Zugang zu einer anderen Szene bekommen, zu Popping-, Locking- und Boogaloo-Tänzern, die seine Funk-lastigen Beats und Talkbox-Einlagen zu schätzen wissen. Sein 2007 erschienenes und vor Funk strotzendes Minialbum »The Gypsy and His Talkbox« habe ihm einen richtigen Hype beschert. Über 600 CD-Exemplare habe er von seiner kleinen Underground-Produktion verkauft und in alle Welt verschickt, vor allem nach Japan, erzählt er. Außerdem richtete er sich ein eigenes professionelles Studio ein, in dem er nun auch die Aufnahmen anderer Musiker mischte und masterte.

Weiter gastierte er bei anderen Rappern, mal als Talkboxer, mal als Produzent. Für Mr. Tomkat, Maio, Mr. Phantom, Baro Dano oder Chawo sowie für DJ Friction, MC Eiht, Daz Dillinger, Foesum oder AMG. Ein Talkbox-Feature bei Ssio habe er dagegen abgelehnt, weil der Sound sich seiner Meinung nach nicht für einen Talkbox-Beitrag geeignet habe. »Aber das zeigt mir, dass man uns auf dem Schirm hat«, sagt er mit Blick auf die Stellung von Sinti im deutschen Rap. Umgekehrt gibt er sich alle Mühe, selbst auf dem Laufenden zu bleiben. »Ich höre mir nahezu jede Deutschrap-Veröffentlichung an«, sagt er. Das reicht von professionellen Releases wie jüngst von Olexeshs »Authentic Athletic 2« bis zu auf YouTube veröffentlichten Home-Videos wie von einer jungen Sinti-Rapperin namens Mena, in der Sin2 neben all den männlichen Sinti-Rappern auch ein hoffnungsvolles weibliches Talent ausmacht.

Im Anschluss an das Gespräch im Musikhaus sitzt Sin2 in einem türkischen Restaurant in der Karlsruher Innenstadt vor einem Teller Adana Kebap. Er erzählt, dass er gerade an einer weiteren EP, »Poppin‘ 4 Pros«, sowie an einem Album arbeitet, das »Sin2 & Friends« heißen soll. In den sozialen Medien gibt er Einblicke in sein Schaffen. Leider fehle es ihm oft an Zeit. In zwei Jahren wird der Familienvater 40 Jahre alt. »Bis dahin will ich auf jeden Fall auch noch einen Rap-Song auf Deutsch machen«, sagt er. Der fehle noch. Denn gerappt hat er bislang immer nur auf Romanes – »ganz intuitiv«.