Visualizing Music – die besten Musikvideos des Monats September

An dieser Stelle sprechen Till Wilhelm und Valentin Hansen ab sofort monatlich über die besten Musikvideos, weil das einfach zu wenig getan wird.

VisualizingMusic_September
Valentin Hansen ist Grafikdesigner, Musiker und Regisseur, Till Wilhelm studiert Filmwissenschaft, ist Journalist und Fotograf. Der eine macht, der andere schreibt drüber. So ist das normalerweise. Aber weil beide der Meinung sind, dass über Musikvideos viel zu wenig und zu oberflächlich geschrieben wird, treffen sich die zwei Nerds ein Mal monatlich, um ihre fünf liebsten Musikvideos des Monats vorzustellen, einzuordnen und zu besprechen. Hierbei sollen die Gespräche nicht nur als Promo-Maschine funktionieren, sondern zeigen, warum und wodurch sich gerade diese Videos von der Masse abheben. Die Vielfalt der Perspektiven kommt durch die verschiedenen Berufungen der Autoren zustande, der Nachvollziehbarkeit halber sind wichtige Einstellungen und Szenen mit Timecodes gekennzeichnet. Für die erste Ausgabe haben sich die beiden in Valentins Office getroffen und über Postmoderne, Liebe und andere Dinge gesprochen.

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  • Tyler, The Creator »A BOY IS A GUN*« (R: Wolf Haley & Luis Panch-Perez)

    Till: Die starre Kamerafahrt auf Tyler und den Herz-Ring. Ist mir sofort in Erinnerung geblieben. (01:10)

    Valentin: Die Stelle, wo der Boy aus dem Pool kommt und dann so hoch schaut. (02:20)

    Till: Die Poolszene finde ich auch stark, weil das eine von vielen Einstellungen ist, in denen die Kamera in Bewegung ist und dann zum Stillstand kommt, sobald Tyler wieder zu sehen ist. Das ist das gleiche beispielsweise bei der Treppenszene.

    Valentin: Ja, die Kameraführung ist halt auch irgendwie signifikant, ne? Die nimmt voll viel Raum ein und entscheidet total, wie das Video sich anfühlt. So statisch und durchgeplant. Jede Einstellung stand da schon vorher fest. Aber das ist ja auch typisch, Tyler macht das ja gerne so Theater-mäßig.

    Till: Aber es hat auch was richtig Cineastisches. Alleine, dass da in vier Minuten so eine komplexe Lovestory dargestellt wird, aber auch im Visuellen. Alleine die ganzen Referenzen und Einflüsse. Die Einstellung mit der Wendeltreppe (01:55) kommt mir beispielsweise richtig bekannt vor. Und die Symmetrie und die Farbpaletten sind stark von Wes Anderson beeinflusst, würde ich sagen.

    Valentin: Ja, er spielt ja in seiner Art auch so einfach einen drüber. Die Inszenierung kommt klar als Inszenierung rüber.

    Till: Ich glaube, auch einige Referenzen zu anderen Tyler-Videos entdeckt zu haben. Allein das Ding, neben Liebschaften im Auto zu sitzen (00:34), zieht sich ja jetzt schon länger. Auch die Einstellung, in der er über die Wiese rennt und dann hinfällt (00:22), erinnert an das »Who Dat Boy«-Video.

  • Tei Shi feat. Blood Orange »Even If It Hurts« (R: Cara Stricker)

    Valentin: Die Baum-Sequenzen. Die Äste fallen so nach unten und man fühlt sich, als würde man selbst unter dem Baum sitzen. (00:29, 00:53, 01:00, etc.)

    Till: Die Sequenzen mit der Skulptur. Wie sie durch das Kostüm in die Skulptur übergeht, ist wunderschön. (00:42, 01:35, 02:28, etc.)

    Valentin: Das passt ja auch voll von der Ästhetik jetzt.

    Till: Auch allein am Anfang, wie sich der Blick öffnet auf diese unfassbare Landschaft, dieses Setting wieder.

    Valentin: Ja, da passiert ja auch gar nicht viel im Video, aber das ist einfach so schön. Jedes Bild ist wie ein Foto.

    Till: Voll! Aber auch: In jeder Einstellung ist mindestens eine*r von beiden zu sehen. Das setzt den Fokus irgendwie voll auf die Performance an sich. Das passt ja auch voll gut eigentlich, das Liebeslied handelt ja auch davon, wie die beiden in der Beziehung performen. Also Performance und Verhalten sind da gleichgesetzt.

    Valentin: Und dann natürlich auch so überstilisiert. Mit diesen Orten, die irgendwie so surreal sind.

    Till: Auch durch die Kostüme fügen die sich ja so krass in die Umgebung ein.

    Valentin: Dann kommt ja auch noch dieser Switch am Ende, der war krass, den hätte ich gar nicht erwartet (03:03).

    Till: Ich hab den aber auch ehrlich gesagt wenig gecheckt. Also wieso dieser Switch da jetzt kommt.

    Valentin: Ja, muss man vielleicht auch gar nicht. Das Video ist ja auch gar nicht so rational-mindblowing, aber es sieht alles so wunderschön aus. Es gibt auch gar nicht so viele Videos, die ich bis zum Ende durchschaue, aber das schon.

    Till: Kannst du erklären, wieso? An sich würde ja auch schon ‘ne Minute einen guten Eindruck geben.

    Valentin: Ja, eigentlich schon. Aber ich fand die Bilder einfach so schön und so perfekt arrangiert, dass ich mich immer gefragt habe, was als nächstes kommt, wie sie das nächste Bild arrangieren. Die Einstellungen wiederholen sich ja auch, aber das ist alles so perfekt austariert, das ist wahrscheinlich auch sehr viel harte Kameraarbeit. Es ist nicht aufregend, aber wunderschön.

  • OG Keemo & Funkvater Frank »216« (R: Breitband)

    Valentin: Die Stelle, an der die Kiste unter den Füßen weggetreten wird. Da geht die Bild- und Ton-Schere zu. (02:33)

    Till: Wenn er so gewaschen und sein Shirt gewechselt wird. Das zeigt nochmal so eindrucksvoll, dass du vor rassistischer Gewalt als Schwarze Person niemals sicher bist. (00:46)

    Till: Das ist so krass. Und das ist ja ein richtiges Low Budget-Video, das sind ja alles deren Jungs, die da schauspielern. Aber das macht es eben auch so unmittelbar und direkt.

    Valentin: Ich kann mir auch vorstellen, dass das Feeling gar nicht rübergekommen wäre, wenn das ‘ne große Produktion wäre. Ich feier OG Keemo komplett, aber bei solchen Songs will ich da vielleicht gar nicht so viel zu sagen. Aus meiner privilegierten Position heraus würde ich natürlich gerne dafür sorgen, dass diese Scheiße nicht mehr passiert. Aber es ist halt einfach ein krasser Hustle, wenn du selbst betroffen bist.

    Till: Ich halt mich da auch gerne zurück, ich will da keinen Diskurs formen. Was ich an dem Ding besonders krass finde, ist, dass das so direkt und offen ist, dass auch als Person, die nie rassistisch behandelt wurde, mich diese Atmosphäre sofort ergreift und mitnimmt. An dem Video ist natürlich auch krass, dass er beide Rollen einnimmt. Er geht mit Würde und Stolz durch beide Situationen und ist dabei trotzdem auch sein eigener Gegner. Der Struggle dabei ist ja auch, dass selbst wenn er es zum General schafft, er ein System damit stützt, dass ihn selbst unterdrückt.

    Valentin: Rein textlich – aber darum geht es hier eigentlich nicht – ist mir natürlich die Daniel-Aminati-Stelle direkt im Kopf geblieben.

    Till: Ja, die bleibt hängen. Aber das war dann ja auch absurd, dass sich weiße Keemo-Fans dann auf Twitter dazu berufen gefühlt haben, sich jetzt über Aminati lustig zu machen. Als wär das deren Recht. Lasst den doch in Ruhe, das ist was anderes, wenn Keemo das sagt.

  • Giant Rooks »King Thinking« (R: Sander Houtkruijer)

    Till: Als ein Model sagt, das sei das dritte Mal in dieser Woche, dass sie für sowas auf ‚nem Auto sitzt… Das kennt man irgendwie. (02:08)

    Valentin: Diese Szene am Anfang, als das eine Model geschminkt wird, während der andere voll connectet mit der Band. Das nimmt die ganze Spannung vorweg. (00:28)

    Till: Bei diesen extrem körperlichen Szenen, dem Kampf (00:15) und dem Knutschen (01:15), ist mir gestern Abend beim Anschauen richtig schlecht geworden.

    Valentin: Ich find’s richtig witzig, wie die das aufziehen. Es gibt ja recht viele Videos, bei denen so hinter die Kulissen geschaut wird, aber die spielen damit so komisch. Das war schon beim Video zu »100 mg« so, da ging es dann so um Uneinigkeiten innerhalb des Filmteams. Und hier sind es halt die Eifersuchtsspiele zweier Models.

    Till: Ach so, das sind gar nicht die von der Band? Ich kenne die ja gar nicht.

    Valentin: Nee, das sind die beiden, die da am Anfang rumstehen (00:43). Auch witzig, die so als Aufnahmeleiter zu zeigen.

    Till: Die Endsequenz (ab 02:25) ist ja auch gerade jetzt witzig, wo »A$AP Forever« basically das Video des letzten Jahres war. Das war zwar nicht so gerade, aber da hat sich ja auch immer ein Fenster zum nächsten geöffnet. Und das entgleist dann total, also die Übergänge sind gar nicht mehr so geschlossen.

    Valentin: Das Video sieht mega aus, also wirklich hochklassig. Und ich mag’s voll gerne, dass man nicht genau weiß, was abgeht. Also mit der Grenze zwischen Story und Behind the Scenes zu spielen.

    Till: Es ist ja auch super selbstreferenziell, beziehungsweise referenziell zum Format.

    Valentin: Voll. Auch diese Einstellung mit dem Rummachen (01:15) und das mit den Models vor dem Auto (00:58), das könnte auch eine Zalando-Werbung sein. Aber es wird ja auch so eingesetzt, dass man erstmal gar nicht weiß, was abgeht.

    Till: Diese Klischee-Einstellungen sind ja auch alle voll körperlich und dahin geht’s ja auch wieder zurück, wenn man am Ende checkt, wieso sich die beiden Models am Anfang prügeln. Also auch so ein Meta-Video bricht im Endeffekt nicht aus dem Kreislauf. Ich habe nur ein Problem: Ich hab noch nichts vom Song mitbekommen irgendwie, das Video nimmt so viel Raum ein.

    Valentin: Ja klar, das ist ja oft ein Problem. Kennst du die Videos von The Blaze? Da werden die Songs halt auch einfach zu Begleitmusik, weil die Videos so krass sind. Das ist aber irgendwie auch die beste Promo für die, weil die Videos halt 30 Millionen Aufrufe bekommen.

    Till: Da geht’s ja auch darum, nicht einfach nur einen Song zu promoten, sondern nochmal in einer ganz anderen Kunstform zu zeigen, was man kann.

  • Deichkind »Dinge« (R: Timo Schierhorn & UWE)

    Till: Wenn Kryptik Joe die Waschmaschinen aus dem Fenster wirft, während er rappt – Wahnsinnsperformance. (01:00)

    Valentin: Die Stelle, an der sie über dieses Auto drüberfahren. Das ist das konsequenteste Bild. (00:30)

    Valentin: Das haben die schon genau so gedreht, ne? Da ist nichts gefaket. Das ist verrückt.

    Till: Ich frage mich, auch ob die das dann trainiert haben vorher. Das muss ja beim ersten Take klappen.

    Valentin: Kann ja schon auch sein, dass das Post-Edit ist.

    Till: Zumindest nehme ich’s Joey Bargeld voll ab, dass er diese Waschmaschine da so rumträgt.

    Valentin: Ich finde, das Video wird immer besser, je öfter man es schaut. Beim ersten Mal dacht ich halt so »Ja, Deichkind-Video, eh geil«, aber selbst jetzt noch: Es ist richtig gut.

    Till: Hast du dir mal die Videobeschreibung durchgeschaut? Da sind ja 15 bis 20 Referenzen drin, die in diesem Video verarbeitet wurden. Ich hab’ mir das auch alles angeschaut und das ist teilweise 1:1 übernommen, aber eben neu verfilmt. Auch viel, was über die Kostüme geht und so weiter.

    Valentin: Das macht ja auch voll Sinn, in dieser Dinge-Thematik.

    Till: Aber das macht es auch zu 100% konsequentem postmodernem Deutsch-Pop. Dass die halt all diese Einflüsse zusammensetzen und neu kontextualisieren und damit ein neues Werk schaffen, das auch super aktuell und relevant ist, das ist ja höchst postmodern.

    Valentin: Das ist bisschen wie DJ-Arbeit.

    Till: Wie Sampling. Das ist HipHop!

    Valentin: Es geht alles um die Kontextualisierung.

    Till: Und der Text macht ja nicht viel anderes. Jede Line spricht einen anderen Aspekt an und fügt so all diese Kommentare in verschiedenen Phasen zu einem neuen Werk zusammen. Manche Zeilen beziehen sich auf Digitalisierung, manche spielen ganz gezielt darauf an, dass in politischen Diskursen zurzeit immer wieder Dinge über Menschen gestellt werden. Da muss man ja nur an SUVs oder den Hamburger G20-Gipfel denken.

    Valentin: Ich liebe das auch, wie dieses Zusammengewürfelte das Publikum animiert, sich das alles selbst zu erschließen.