2014 / THE RAP UP:
HipHop in Deutschland anno 1994

1994, darüber herrscht erstaunlich viel Einigkeit am HipHop-Stammtisch, war das Jahr schlechthin für das Genre. Wohlgemerkt: im US-HipHop. Darüber, was rap-technisch vor zwei Dekaden in der Bundesrepublik schon los war, findet man – in gut sortierter Form – nur wenig. Anlässlich des Jubiläums dieses denkwürdigen Jahres ändern wir das.

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Mit 2014 geht erneut ein Jahr zu Ende, das voll war von runden Jubiläen klassischer US-Rap-Alben. Entsprechend viel wurde gesprochen und geschrieben über die großen Würfe, die heuer ihr Zwanzigjähriges feierten. Kein Wunder, war doch gerade 1994 eine Spielzeit voller Blockbuster und Untergrund-Classics der zweiten goldenen Ära, die bis heute nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben. (Empfehlung an dieser Stelle: Die »Props Over Here: 1994«-Spotify-Playlist von »Grantland«.)

Nur kurz vor Schluss fällt auf: irgendwie hat niemand über Deutschrap anno 1994 gesprochen. Das liegt sicher auch daran, dass Deutschrap vor 20 Jahren noch deutlich unbeholfener klang als die US-Vorbilder und, mal ehrlich, keine Konsensplatten hinterlassen hat, die man heute noch so uneingeschränkt pumpen kann wie »Ready To Die«, »Ill Communication« oder »Illmatic«. Trotzdem ist die Deutschrap-Diskografie des Jahres 1994 rückblickend ein spannendes Dokument eines Genres, das erst vier, fünf Jahre zuvor zaghaft den Weg auf Tonträger gefunden hatte und nun immer professionelle Strukturen vorweisen konnte. Aber vor allem stilistisch waren die Kontraste zwischen grundverschiedenen Ansätzen und offenkundigen äußeren Einflüssen vielleicht nie wieder so klar zu erkennen wie 1994.

Deutschrap vor 20 Jahren – in 20 Schnappschüssen und ganz ungeachtet der Frage, wie kompatibel all das mit heutigen Hörgewohnheiten ist.

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  • 1. MC Rene »Die neue Reimgeneration« (MZEE)

    Zugegeben, den Song gab es schon 1993 auf dem »Alte Schule«-Sampler. Da die Maxi aber erst 1994 erschien, darf und muss MC Rene die Liste eröffnen: zu gleichen Teilen Respektsbekundung für die Veteranen der deutschen HipHop-Szene und Mission Statement für die zweite Generation von HipHop-Aktivisten in Deutschland, dreht sich »Die neue Reimgeneration« um Emanzipation vom vorherrschenden Dogmatismus und das Finden eines eigenen Zugangs zur Kultur.

    Auch nicht ganz uninteressant als Hintergrundwissen, nachdem der Begriff als Titel einer von Falk Schacht 2011 einberufenen Talkrunde bei einigen Rappern und Zuschauern zwischenzeitlich für Unmut sorgte.

  • 2. STF »Keine Effekte« (Blitz Vinyl)

    Hardcore-Rap im Zickzack, nicht mehr und nicht weniger. Durchsetzungsfähige Drums, schnelle Scratches, echt Kölnisch Bass, ein »Blow Your Head«-Sample und ein Rapstil, über den Scope einst die Anekdote erzählte, wie ihn die Schwester eines Mitmusikers nach einer Aufnahmesession fragte, wieso er denn so schreie. Seine Antwort: »Das ist Delivery.« Scopemann und Tuareg fegen euch alle weg.

  • 3. No Remorze »Condemned To Death On Da Day Da Lites Went Out« (Buback)

    Mindestens genauso hardcore, nur noch hörbarer vom Geschehen auf der britischen Insel beeinflusst, meldeten sich No Remorze aus Bremerhaven – Lötfinger DJ Stylewarz kannte man bereits von VIVA Freestyle – mit ihrer ersten Doppel-A-Seite voller außerirdischem Höllenfunk zu Wort.

  • 4. State of Departmentz »Reimexplosion« (Rap Nation)

    Auch die Braunschweiger Crew um die Brüder Ben und Phil, zu der zwischenzeitlich auch MC Rene gehörte, war merklich Britcore-beeinflusst und musste sich von DJ Stylewarz öffentlich dafür veralbern lassen, ein Sample zu verwenden, das auch No Remorze benutzt hatten. Damit hatten sie natürlich erst mal verloren. Trotz des epochentypisch dämlichen Albumtitels ist »Reimexplosion« aber ein ganz stimmiges, düsteres Album mit sozialkritischem Schwerpunkt, das im ziemlichen krassen Gegensatz zu einem anderen Projekt steht, das 1994 aus dem Hause Rap Nation Records kam …

  • 5. Jazzkantine »Jazzkantine« (Rap Nation)

    Ja, das Kantinen-Debüt war ein etwas käsig anmutendes und hemdsärmelig gefälliges Projekt, das mehr auf britischen Acid Jazz als auf Gurus erste Jazzmatazz schielte. Und ja, auch die rappende Stammbesetzung (State of Departmentz, Phase V, Cappuccino, Tachi von der Fresh Familee) sorgte mit Stargast Smudo nicht für überbordende Kredibilität. Trotzdem darf man das Album als ersten gelungenen Crossover seiner Art in Deutschland verbuchen, und mit dem ersten Auftritt des jungen Spax und dem Smu-Solo »Respekt« steht die formale wie inhaltliche HipHop-Relevanz eh außer Frage.

  • 6. Phase V »Mentale Verwandlung« (Rap Nation)

    Stand da auf der vorherigen Seite gerade das Wort »Crossover«? Nach der Debüt-EP von Such A Surge im Vorjahr veröffentlichte Rap Nation Records 1994 auch »Mentale Verwandlung«, das kurze und erstaunlich eigenständige erste Album von Phase V, dem klaustrophobischen Rap-Rock-Vehikel um Charmeur Aleksey. Obwohl sich das Album noch zu häufig in quatschigen Skits verzettelt, muss man Phase V doch die Ambition anrechnen, das heikle Thema Kindesmisshandlung anzuschneiden.

  • 7. V.A. »Die Macht der Kreativität« (Rap Nation)

    Tatsache, Rap Nation Records zum vierten. Produktives Jahr. Diese eher unausgegorene Compilation steht allerdings stellvertretend ausgerechnet für Berliner HipHop, der 1994 zwar eher schwach an Releases war, hier aber mit guten Beiträgen von Rock Da Most, Cheeba Garden und Islamic Force Präsenz zeigt. Die kurzlebige Formation Pura G-Schmak (ja, wirklich) um den nicht-reimenden Rase und DJ Derezon eröffnet den Reigen mit dem seltsam hypnotischen »Ein Bisschen vom G-Schmak«.

  • 8. V.A. »Nordseite« (Operation 23)

    Mehr Lokalkolorit in Sampler-Form? Gern. Die »Nordseite« aus Bremen und Umgebung bringt die wahnsinnigen F.A.B. (Ferris und Immo, ihr wisst), Lyrical Poetry, Zentrifugal und einige mehr ans Tageslicht, teils deutlich UK-beeinflusst, oft politisch und insgesamt bemerkenswert bunt. Eine der besten Städte-Compilations der frühen Neunziger.

  • 9. V.A. »Schützt die Rille« (Köln Massive)

    Vielleicht erinnert sich ja noch jemand an die Zeit, als Schallplatten vom Aussterben bedroht schienen. Falls nicht, taugt das Köln-Düsseldorfer Projekt »Schützt die Rille« als perfektes Zeitdokument einer Szene, die sich dem sicherem Verlust ihres Lieblingsmediums ausgeliefert sah. Und alle machen mit: Der Pütz, heute Betreiber von ENTBS, Die Coolen Säue mit der wahnsinnig hörenswerten Geschichte vom »Chili Con Caane«, deren späterer DJ Lifeforce in zwei verschiedenen Formationen, Gadget, TCA Microphone Mafia, Tatwaffe, Def Benski, Plattenpapzt Jöak, die Königsdorf Posse um den legendären Poeten Bob, Konstruktive Kritik mit MC Sloty, der heute Jim Dunloop heißt, und tatsächlich auch Grandmaster Flash, Grandwizard Theodore und Disco Bee, die in einem Kölner Hotelzimmer ihre Vinyl-Routines aufnehmen. Hat ja auch geklappt, das Retten.

  • 10. V.A. »Pioniermanöver – Hip Hop aus der DDR« (Halb 7)

    Damals überfällige Stimmen aus dem Osten zwischen Hardcore, Jazz-Rap und Electro-Funk. Für einen unaufgeregten Blick zurück auf die Situation von B-Girls und -Boys im real existierenden Kommunismus lohnt sich das essenzielle Titelstück von B.Side The Norm.

  • 11. Too Strong »Greatest Hits« (Tribehaus)

    Unterdessen im Pott: Too Strong veröffentlichen den bis heute gültigen offiziellen Soundtrack für die A40, für eisige Yards, bunte Züge, PVC-Matten, Bier und die Wuppertaler Schwebebahn. Willkommen in der Silo Nation.

  • 12. Anarchist Academy »Anarchophobia« (Tribehaus)

    Das zweite Album der Posterboys des Antifa-Rap war aufsässig, entschlossen und voller Slogans. »Bundestag brenn«, »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, »Alle Macht den Räten« – leichte Sozialkritik ging auch damals anders. Aber vor Anarchist Academy sollte die Gesellschaft ja auch Angst haben. Pogo-Rap.

  • 13. Kinderzimmer Productions »Kinderzimmer Productions« (kein Label)

    So gar keiner Szene konnte man Textor und Quasi Modo zuordnen, als sie im Alleingang ihr erstes Album veröffentlichten. Von Anfang an war das Ulmer Duo schlauer, waghalsiger, kreativer und zugleich in seiner Essenz mehr HipHop als viele Andere. Klar war das verwirrend, und bis zu ihrer Auflösung zahlreiche Alben später behielten Kinderzimmer Productions ihre Sonderrolle als jazzaffine Prog-HipHop-Intelligenz. Nur schade, dass man sich allein davon nie etwas kaufen konnte. Dass ein ungeklärtes Stranglers-Sample dazu führte, dass das erste Album schnell wieder vom Markt genommen werden musste, passt ins tragisch-schöne Bild: Einfach war es nie für KiZi.

  • 14. Advanced Chemistry »Operation §3/Chemischer Niederschlag« (Intercord)

    »Was ist eigentlich mit Advanced Chemistry?« Die Heidelberger Veteranen waren releasetechnisch immer eher Spätzünder, und ihr Album war 1994 noch immer nicht in Sicht. Mit diesen zwei Songs war aber für das laufende Jahr trotzdem alles gesagt: knochentrockener Polit-Rap trifft auf Organized-Konfusion-inspirierten, Jam-erprobten Battlekram.

  • 15. Main Concept »Coole Scheiße« (Move)

    Das Münchener Freestyle-Wunder David Pe und seine Mitstreiter Explizit und Glammerlicious (damals Human D) klangen auf ihrem ersten Album wie eine bajuwarisch gelassenere Variante von Advanced Chemistry, zwar jünger, aber mit kaum weniger Traditionsbewusstsein und ebenso klarer politischer Motivation. Ihre Tour mit MC Rene und den Absoluten Beginnern als »Klasse von 94« legte den ideologischen Grundstein für die »Klasse von 95«-Compilation im Folgejahr.

  • 16. Absolute Beginner »Ill Styles« (Buback)

    Die zweite EP der damals noch etwas zahlreicheren und immer noch blutjungen Beginner war eine klare und wichtige Weiterentwicklung von der punkigen Hafenstraße-Attitüde ihres Erstlings »Gotting« hin zum eklektischen Post-P-Funk-Irrsinn, der auf »Flashnizm« folgen sollte. »Die Kritik an Platten kann die Platten der Kritik nicht ersetzen« war nicht nur der beste Titel, sondern auch das beste Video der Saison, das Graff-Cover wahrscheinlich das beste seiner Art und »Ill Styles« so anstrengend wie unverzichtbar.

  • 17. Fettes Brot »Mitschnacker« (Yo Mama)

    Ein paar Kilometer von der Roten Flora entfernt tauchte derweil ein leichtfüßiges, gut gelauntes Trio auf, das auf nur einer Handvoll Songs seine humorige Perspektive auf Battlerap (»Definition von Fett«), das Thema Possetrack (»Schlecht«), alltäglichen Rassismus (»Schwarzbrot Weißbrot«) und überhaupt mittelständischen HipHop vorstellte. Ein weiteres wichtiges Puzzlestück auf dem Weg von der »Alten Schule« zur »Klasse von 95«.

  • 18. Der Tobi & Das Bo »Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander« (Yo Mama)

    Zwei Quatschköpfe und ihr DJ – eine Puppe – in einem Cordschuh, viel Freude am gereimten Kalauern und eine ausgeprägte »Is mir egal«-Haltung – mehr war 1994 gar nicht nötig, um für schwere Irritationen zu sorgen. Das Debüt von Tobi & Bo ist ein dadaistischer Hörspiel-Jungsspaß, dessen implizite Kritik an HipHop oft als respektloser Angriff missverstanden wurde, und nicht zuletzt deshalb eines der kreativsten und originellsten Alben 1994.

  • 19. Konkret Finn »Ich diss dich« (No Mercy)

    Die historische Bedeutung von »Ich diss dich« – schon im Vorjahr auf einer Frankfurter Compilation aufgetaucht – kann schwer übertrieben werden. Tone verantwortet die Stunde Null der Chabo-Slangs im Rap, den ersten waschechten, harten Battlerap-Track auf Deutsch und damit einen maßgeblichen Einfluss auf die Berliner Rapszene, die später in Form von Royal Bunker die Beleidiger-Fackel weiterträgt. Konkret Finn zertritt dich wie Popcorn und verändert deine Kopfform, aber dummerweise bleibt das Album »Reim, Rausch & Randale« derart lange in irgendeinem Regal liegen, dass es längst wie ein Fossil klingt, als ausgerechnet Def Jam Germany 2001 eine offizielle Veröffentlichung hinkriegt.

  • 20. Rödelheim Hartreim Projekt »Direkt aus Rödelheim« (3p)

    Gar nicht so steile These: »Direkt aus Rödelheim« war das zukunftsweisendste Album, das deutscher Rap 1994 hervorgebracht hat. Auch und gerade weil »Direkt aus Rödelheim« so eine arrogante Antihaltung bei gleichzeitiger Kommerz-Orientierung zur Schau stellte, weil Moses P und Thomas H als stilisierte Outlaws niemandem gefallen wollten und sich kurzerhand mit jedem Camp von Advanced Chemistry bis zu den Fantas anlegten. Kein anderes Album aus Deutschland klang zuvor so zeitgenössisch amerikanisch, so breitwandig und, ja, soulful. Niemand sprach damals so großspurig über Rap und vermeintliche Straßensachen. »Direkt aus Rödelheim« ist der konzeptuelle Papa von Aggro Berlin und schwarzweißen Hochglanzvideos mit Erfolgsinsignien. Der Erfolg der Freunde von Niemand beruht auf einer an Einfallslosigkeit grenzenden, detailgetreuen Rekonstruktion dieses Albums und des provokanten Bully-Images von RHP. Wen interessieren bei all dem Frankfurter Barock noch ein paar arg schwache Haus-Maus-Reime? Man muss das überhaupt nicht gut finden. Aber dass dieses Album 1994 wie von einem anderen Stern wirkte, bleibt ein Fakt. Du Depp-sein-Sohn.