Zugezogen Maskulin »Woah, cooole Riots! Konfetti-Party! Boah, Natur! Mhmmm, Sex!«

Nach der ersten EP, einer LP und zwei Solo-EPs veröffentlichen grim104 und Testo jetzt als Zugezogen Maskulin ihr zweites Album »Alles brennt« über Buback Tonträger. Ein Interview über Nostalgie, Entmenschlichung, Narzissmus, Selbstinszenierung und Deutschraps State of the Art.

13_by_Philipp_Gladsome
  • Erste Frage: Würdet ihr gerne noch mal Kinder sein?

  • Testo: Nee, auf keinen Fall. Viele Rapper haben ja diese Lieder, in denen sie erzählen, wie schön damals auf dem Spielplatz alles war. Aber ich finde es jetzt mit vollem Verstand und allen Freiheiten auf jeden Fall tausend Mal geiler, als zu der Zeit als Kind, wo man ganz vielen Sachen einfach ausgeliefert ist und sie nicht steuern kann.

    grim104: Vor allem kann man so wenig coole Sachen machen. Ich stelle mir ein Kinderleben so unglaublich trist vor. Du bist so auf deine Eltern angewiesen und ihnen ausgeliefert. Die könnten dich auch einfach packen und erwürgen. (lacht) Das ist doch total unheimlich. Kinder tun mir leid. Auch diese kindliche Lebenswelt, die man nur auf dem Rücken liegend erlebt … das Einzige, was geil ist, sind Sommerferien, umsonst wohnen und essen, was man will. Aber auch das Geschlechtliche fehlt mir ja als Kind, ne? (lacht)

  • »Ich denke schon, dass sich bei Twitter eine besondere Art Mensch sehr wohl fühlt. Da lässt sich eine gewisse Form von Narzissmus sehr gut ausleben.« (Testo)Auf Twitter teilen
  • Aber es ist doch schön, die Welt zu entdecken und alles kennen zu lernen.

  • grim104: Nein. Ich bin gerne der Mensch, der ich jetzt bin. Das Einzige, was ich geil fände, wäre mit meinem jetzigen Wissensstand noch mal 16 sein zu können.

    Testo: Das auch nicht! Das wäre ja komplett psycho und ich würde gar nicht klarkommen. (Gelächter)

    grim104: Jaaa, okay, sehe ich. Aber das wäre das Einzige. Dann würde ich in meine alte Schule gehen und sagen: »Ja, Herr Schulze [Name von der Redaktion geändert, Anm. d. Verf.], Adorno hat aber gesagt …« (lacht)

  • Damit hätte sich auch meine nächste Frage geklärt. Nämlich die, ob ihr gerne noch mal Teenager sein möchtet.

  • Testo: Das noch weniger! Da war ich komplett neben der Spur und das war gar nicht lustig. Nur rumhängen, Scheiße bauen und Zeit totschlagen. Ich war rund um die Uhr entweder betäubt oder traurig. Und ich habe Musik gemacht. Mit 16 habe ich angefangen. Das war wie so ein Erweckungserlebnis, als ich gemerkt habe, dass das ja Spaß macht. Ich habe erst Gitarre gespielt.

    grim104: Wie hieß die Band denn?

    Testo: Komakellen. (lacht)

    grim104: Kellen?

    Testo: Ja, so wie »schlagen«. Das waren ein Schlagzeuger und ich und wir haben eigentlich nur rumgebrüllt. Dann habe ich nachher noch meinen Kumpel Sascha dazugeholt, der Bass gespielt hat. Und dann habe ich den Fehler begangen, noch einen zweiten Gitarristen dazuzuholen. Ich dachte halt, dass das geil wäre, eben wie bei den Toten Hosen. Aber der hat sich dann mit dem Schlagzeuger viel besser verstanden als ich und auf einmal hieß es: »Das mit dem Rumbrüllen ist doch scheiße, lass uns lieber mal was Melodischeres machen.«

    grim104: Ach, daher kommen die Lines auf »Weil die anderen Spastis sind«!

    Testo: Ja, Mann! Das ist alles true, das ist alles real. Die haben mich dann einfach irgendwann nicht mehr angerufen und ich war raus aus der ganzen Geschichte. Aber dann habe ich angefangen zu rappen und das fand ich noch viel geiler – obwohl ich eigentlich gar keine Themen hatte. Ich habe nur Sachen reproduziert und in meinen Texten davon gerappt, dass mich alle nachmachen und biten wollen. (lacht)

    grim104: Bei mir hat das mit 13 oder 14 angefangen und ich habe mich MC Nordlicht genannt, was auf einen Rap hanseatischer Ausrichtung hindeutete. (grinst) Und für das erste Lied, dass ich richtig aufgenommen habe, habe ich einen Bushido-Beat benutzt. Der Song hieß »Stress« und es ging um meinen eigenen, mentalen Struggle. (Gelächter) Das Lied habe ich sogar noch und kann es auch immer noch rappen. (fängt an zu rappen) »S-T-R-E-Doppel-Eeeeeess …« Apropos: Instrumentals: Ganz am Anfang habe ich mir mal bei Triangel in Willhelmshaven »Gefährliches Halbwissen« von Eins, Zwo gekauft und aus Versehen die Instrumental-Version eingepackt. Ich wusste damals nicht, was Instrumentals sind. Das war meine erste Vinyl! Und dann hatte ich diese dumme Platte und habe die immer ganz alleine kopfnickend mit Kopfhörern auf meiner Couch gehört. (lacht)

  • Das Gute ist ja, dass das nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist. Heutzutage kann ja jeder seine Gehversuche direkt mit einem großen Publikum teilen.

  • Testo: Ich weiß noch, dass das damals nur ging, wenn du CDs gebrannt hast. Ich hing zu der Zeit immer viel bei so ein paar Dealern rum und da kamen immer Leute, haben was gekauft und denen hat man dann eine von seinen CDs mitgeben und die Musik hat sich dadurch verbreitet.

    grim104: Ich finde es einerseits sehr gut, dass jeder noch schneller viele Menschen erreichen kann. Das macht Rap noch demokratischer als er eh schon ist. Auf der anderen Seite wird das Grundrauschen dadurch natürlich viel lauter.

    Testo: Das wird immer so angeführt, aber das sehe ich gar nicht. Ich kriege von dem Grundrauschen gar nichts mit, sondern höre nur die Spitzen, die sich herausgearbeitet haben. Deswegen habe ich eher das Gefühl, dass sich gerade bei hoher Konkurrenz Dinge herausarbeiten, die etwas Eigenes haben.

    grim104: Das bestreite ich auch gar nicht. Aber ich glaube, dass der Ausschuss an Müll ist höher.

    Testo: Aber damit hat man nichts zu tun.

    grim104: Wenn man es nicht sucht. Ich mache das aber. (lacht) Ich mache das manchmal wirklich: Einfach einen Stadtnamen und dahinter »Rap« eingeben. Und im Idealfall erscheint dann etwas total Absurdes, im schlimmsten Fall hast du dann einen qualitativ guten Rapper mit solidem Savas-Flow, der dann total langweilig und komplett uninteressant ist.

    Testo: Das wäre ja unerträglich. Ach du Scheiße! (lacht)

  • Diesen Müll, von dem grim eben gesprochen hat, findet man ja auch in allen anderen Bereichen des Internets. Und je älter ich werde, desto absurder finde ich das, was dort passiert, manchmal. Ich denke zum Beispiel an sogenannte Twittermädchen, die ihre Essstörungen inszenieren oder eben auch diese relativ junge YouTuber-Szene. Wenn ihr jetzt sagt, dass ihr gerne die Menschen seid, die ihr jetzt seid – wie schwer oder leicht fällt es euch denn, euch in dieser Welt zu bewegen?

  • Testo: Naja, es zwingt einen ja keiner, auf Twitter zu sein. Ich habe irgendwann mal auf Twitter geschrieben: »Wenn ihr nicht nur solchen Spastis folgen würdet, dann müsstet ihr euch auch nicht die ganze Zeit darüber aufregen, dass dort nur Spastis rumhängen.« So ist das eben. Aber ich merke natürlich durch die gesteigerte Aufmerksamkeit gerade, dass es für komische Leute leichter ist, einen zu erreichen als beispielsweise über ein privates Facebook-Profil. Wenn Leute einen da anschreiben, versuchen sie nur, eine Antwort zu provozieren. Twitter entmenschlicht total. Das ist ja nicht so, als wenn jetzt jemand hier reinkommt und mich anspricht, sondern das passiert komplett abseits von menschlicher Interaktion. Und ich denke schon, dass sich bei Twitter eine besondere Art Mensch sehr wohl fühlt. Da lässt sich eine gewisse Form von Narzissmus sehr gut ausleben.

  • Genau dieses Gemisch aus Narzissmus, Entmenschlichung und Selbstinszenierung geht bei vielen ja mit einem ganz bestimmten Look oder einer bestimmten Art zu reden einher. Ich kam darauf, weil ihr in der aktuellen Ausgabe der »Intro« im Gespräch mit Deichkind davon gesprochen habt, dass all das mittlerweile seinen Weg in die Erlebniswelt der Werbung gefunden hat und ein Spot von Vodafone etwa kaum noch vom Instagram-Look oder den Fotos auf Tumblr-Blogs zu unterscheiden ist.

  • grim104: Ich kann mich auch nicht ganz davon freimachen. Wenn ich mich dann doch manchmal bei Tumblr durchklicke und diese schönen Momentaufnahmen, die von irgendwelchen Profifotografen gestohlen worden sind, aneinandergereiht sehe, habe ich dann doch das Gefühl, dass diese Leute ein viel cooleres Leben als ich haben. (scrollt ein imaginäres Mausrädchen) So nach dem Motto: »Woah, cooole Riots!«, »Konfetti-Party!«, »Boah, Natur!«, »Mhmmm, Sex!« (Gelächter) Ich muss dann immer realisieren, dass das gar nicht echt ist und das hilft mir dann. Wobei das fast schon etwas gruselig ist, wenn man sich immer wieder wie so ein Mantra »Das ist nicht echt!« vorsagen muss.

    Testo: Das ist dann bei Twitter ja auch wieder so. Ich glaube jeder, der Content generiert, sich bei Twitter oder sonst wo aufhält oder etwas mit Medien macht, hat eine narzisstische Ader und jeder Mensch freut sich auch, wenn Leute gut finden, was er macht. Das Problem ist eben, dass viele Leute eben eine Figur erfinden und diese inszenieren, anstatt sich selbst. Wenn man noch jünger ist und das nicht durchschaut, aber ständig dort rumhängt, bekommt man ja das Gefühl, auch so wie die anderen sein zu müssen. Und sei es nur: »Boah, guck mal, die mentioned gerade den und den Star und der schreibt ihr sogar zurück – da will ich aber auch!« oder »Die hat so viele Follower, wie hat die das gemacht? Viel über Sex und bei der WM über Fußball twittern. Alles klar, mache ich auch.« Und so reproduziert sich das eben. Leute erkennen Muster und bedienen sie – zum Beispiel so wie alle Sonntagabend »Tatort« gucken und mit dem Hashtag #tatort lustige Sachen twittern.

  • Aus all diesen oben genannten Gründen melden sich ja auch immer mehr Leute von sozialen Netzwerken wie Facebook ab.

  • Testo: Bei Facebook habe ich das Gefühl, dass es viel gemütlicher geworden ist. Weil die Leute, die früher da aktiv waren, jetzt bei Twitter unterwegs sind. Deshalb wirken die Leute, die ich in meiner Freundesliste habe, viel lockerer, weil niemand mehr so krampfig versucht cool zu sein.

    grim104: Nee. Also jetzt kommt mein Beitrag zum Social-Media-Talk. (Gelächter) Ich finde, bei Facebook sind viel mehr Eltern und Arbeitskollegen. Da unterscheidet sich die Art und Weise meines Schreibens ganz automatisch von Twitter. Das klassische Twittermädchen – wobei es das auch bei Typen gibt und ich euch hiermit den von mir oft zitierten @herbstjunge ans Herz legen möchte – schreibt gerne über One-Night-Stands und MDMA-Ausprobieren – das ist nicht so leicht, wenn dein Chef oder deine Eltern mitlesen.

    Testo: Facebook ist für mich eher so ein gemütliches Rumhängen auf einer Homeparty mit Kumpels und Twitter ist die Szeneparty.

  • Lass uns noch mal eben über diesen Bilderrausch reden, von dem grim eben gesprochen hat. Ein wütender Mob, erotische Bilder, gutes Essen …

  • grim104: … nicht zu vergessen Tattoos …

    Testo: … oder Fitnessbilder.

  • »Pleite zu sein ist heute verpönt. Selbst Bushido hat früher noch darüber geredet, wie er Ticker abgezogen hat. Das hat er gemacht, weil er keine Kohle hatte.« (grim104)Auf Twitter teilen
  • Stimmt. Nicht nur Muskelberge, sondern auch sogenannte Thinspiration-Blogs, die sich zum Beispiel auf Fitnessübungen für Menschen mit Essstörungen spezialisiert haben.

  • Testo: Aber das trifft ja genau diesen Nerv: »So wie du bist, bist du nicht cool. Du musst dich selbst inszenieren, geil sportlich sein und das nach außen tragen.«

  • Und du zeigst vor allem nur das, was schön ist.

  • grim104: Ich finde, sogar das vermeintlich Hässliche wird aufgehübscht. Das finde ich eigentlich das Unangenehme daran. Selbstverletzung oder Depression werden dadurch konsumierbar und sexy gemacht. Dass Depressionen auf ein Schwarzweißbild heruntergebrochen werden, auf dem eine Frau eine Zigarette raucht. Genau so ist es mit der Inszenierung von selbstverletzendem Verhalten, wo dann auf Bildern vernarbte Arme zu sehen sind. 

  • Da hast du recht. Das Kokettieren mit dem Kaputten hat durchaus Konjunktur. Nach dem Motto »Depression war nie tragbar, doch steht uns so gut« aus dem Casper-Song »XOXO«.

  • grim104: Jaaa, wobei ich das schwierig finde. Man weiß ja auch nicht, ab wann jemand depressiv ist. Es gab letztes eine Twitterkampange mit dem Hashtag #notjustsad, die sich an depressive Menschen gerichtet hat.

    Testo: Ganz schlimm. Du wirst ja depressiv, weil du deine Trauer nicht nach außen tragen kannst oder dich nicht traust, die zu zeigen. Das hört man ja oft, wenn depressive Menschen sich umbringen: »Das hat man ja nicht gewusst, der hat ja immer gelacht.« Genau wie bei Ben Wettervogel …

    grim104: … der Wettermoderator, der sich extra mit Schalldämpfer erschossen hat, damit niemand das mitbekommt.

  • Ich finde diesen, nennen wir es mal, Flirt mit psychischen Problemen sehr schwierig, weil junge Menschen eben meist damit in Kontakt kommen, wenn sie sehr manipulierbar sind.

  • grim104: Es gibt bei den Simpsons diesen Satz: »Teenager in eine depressive Stimmung zu versetzen, ist wie Fische aus einem Fass zu angeln.« 14- bis 20-Jährige sind in ihrer Unsicherheit eben sehr empfänglich dafür. Ich kenne dieses jugendliche Traurigsein ja auch. Nicht zu wissen, wo man hingehört oder wer man ist und nicht zu den Coolen zu gehören. Aber mir hat dieses, und damit meine ich jetzt nicht Casper, Jammerlappige nie geholfen. Im Gegenteil: Das war viel mehr eine starke Haltung und ein gewisser Stolz darauf.

    Testo: Ja, voll.

    grim104: Prinz Porno hat mal ein Lied namens »Wunderkind« gemacht, in dem er rappt: »Als ich klein war, war ich anders als die anderen Kinder/und ja es stimmt, ich find euch alle behindert

    Testo: Ich fand auch Azad oder Fler und Bushido viel cooler, die auf ihre Art auch sehr offen mit psychischen Problemen wie Depressionen oder Panikattacken umgegangen sind. Da habe ich mir auch gedacht: »Guck mal, die kriegen es trotzdem gebacken und gehen ihren Weg.« Das hat mir in meiner Jugend sehr viel Mut gemacht.

    grim104: Es gibt bei »Dreckstück« von Bushido und Fler diese Skits, wo Bushido und Fler miteinander reden und weil die ihre Nasen ständig hochziehen, dachte ich immer, die würden heulen. Dabei ziehen die Kokain! (Gelächter) »Die geht mir auf die Nerven, Alter, verstehste?« – »Du musst einfach mit ihr reden und dann hat sich alles erledigt, Mann. Sollen wir mit meinem Wagen hinfahren, wir können das regeln.« – »Ich weiß nicht, Alter!« (macht Schnupfgeräusche) Und ich dachte immer: »Das ist ja voll geil, die weinen jetzt einfach. (Gelächter) Es gab ja auch klassische »Mir geht es schlecht«-Musik, aber das hat mich nicht so wirklich interessiert. Auf dem Sampler »Kopfnicker Records – Das Album« mit so Leuten wie TimXtreme war damals der eine oder andere Song in diese Richtung. Das hat mich einfach nicht angesprochen. Auch heute ist es so, dass ich es mag, wenn Leute selbstreflektiert sind, aber das Jammern überlasse ich lieber mir selber.

    Testo: Ich finde es schon okay, wenn man solche Sachen mal rauslässt. Aber was mir auf den Sack geht, ist, wenn ich das Gefühl habe, dass das nur aufgesetzt ist oder man es tut, weil man damit gut Kasse macht. Genau das Gleiche ist es, wenn Rapper drei Alben darüber reden, wie scheiße es ist, berühmt zu sein. Dann denke ich mir: »Hör doch auf und mach was anderes!«

  • »Wenn eine Frau in die Cypher kommt, verhalten sich alle Typen ganz anders.« (grim104)Auf Twitter teilen
  • Wenn wir gerade schon dabei sind: Wie würdet ihr denn den State of the Art von Deutschrap gerade einschätzen?

  • Testo: Ich weiß gar nicht, ob ich das alles so einschätzen kann.

  • Naja, aber ihr hört das ja alles – und vor allem hört ihr das auch ungefähr so lange wie ich.

  • Testo: Gut, wir sind schon richtige Nerds. (lacht)

    grim104: Eine Sache von vielen, die mir aufgefallen ist und über die ich auch schon in dem Interview mit der »Intro« gesprochen habe, ist eigentlich nur eine winzige Fußnote. Pleite zu sein, ist heute verpönt. Selbst Bushido hat früher noch darüber geredet, wie er Ticker abgezogen hat. Das hat er ja nicht getan, weil er scheißenreich war. Das hat er gemacht, weil er keine Kohle hatte. Aber auch davor hat man schon mitbekommen, wie M.O.R. aussahen und konnte sich denken, dass die nicht wahnsinnig viel Kohle hatten. Damals konnte man noch broke und abgefuckt sein. Das hat sich komplett verändert. Ich habe das Gefühl, dass materielles Unwohlsein, obwohl es gesellschaftlich zunimmt, wird im HipHop immer weniger reflektiert oder spielt nur noch ganz am Rande eine Rolle. Bei Leuten wie Kollegah findet das nur noch als Vergangenheitszustand statt, der jetzt abgelehnt wird. Das entspricht in dem Fall ja auch der Wahrheit. Aber was den ganzen Flavour angeht, ist es so, dass man Leute dafür mittlerweile disst.

    Testo: Man hatte Gangsta-Rap, dann gab es Marteria, Casper und Cro und im Nachgang Olson und so weiter. Und jetzt gibt es Leute, zu denen ich uns auch zählen würde, die aus dem Mittelstand kommen, aber trotzdem keinen hohlen Rap machen – so wie Edgar Wasser, DCVDNS oder die Antilopen Gang. Das sind alles coole und interessante Künstler und keine Abziehbilder, die nur Gute-Laune-Scheiß machen. Die stehen alle in den Startlöchern …

  • … und werden gehört …

  • grim104: … und man bekennt sich zu denen. Ich habe kein Problem damit zu sagen, dass ich Edgar Wasser cool finde. Der verkörpert ja eine gewisse Schlauheit, aber ich mag den irgendwie und habe das Gefühl, dass der Coolness und Schlausein vereinbaren kann. Das gefällt mir.

    Testo: Was mich bei Mittelstandsrappern oft gestört hat oder stört: Wenn die aus einem falsch verstandenen Battle-Gedanken auf Gangsta-Rappern rumgehackt haben. So nach dem Motto: »Ihr da wieder. Geht euch mal weiter beleidigen, hähähä!« Bei StudiVZ gab es früher eine Gruppe, die hieß »Prügeln?! Nein, aber ich kann dir gerne Lesen und Schreiben beibringen.« Und das ist genau die Art und Weise, die ich überhaupt nicht leiden kann. Die hat im Rap nämlich überhaupt nichts zu suchen. Weil Rapper aus der sogenannten Unterschicht, die von der Gesellschaft ja schon marginalisiert werden, in ihrem Sprachrohr von mehrheitsgesellschaftlichen Rappern noch mal marginalisiert werden. Wenn aber ein Farid Bang jemanden disst, weil er arm ist und mit der Bahn fahren muss, dann finde ich das aber doch witzig. 

  • In der neuen Ausgabe von »Das Wetter« gibt es einen Text über »Deutschraps neue Mitte«. Habt ihr den gelesen?

  • grim104: Den habe ich gelesen und fand ihn sehr gut. In seiner ganzen Geballtheit ist mir aber erst beim Lesen aufgefallen, dass es da fast schon so etwas wie ein eigenes Subgenre gibt.

  • Kennt ihr diese neue Rapperin Robbery aus Hamburg, mit der Money Boy neulich ein Interview geführt hat?

  • grim104: Ja, aber da bin ich mir noch nicht sicher, ob ich die gut finde.

    Testo: Ach, ich dachte, dass das die Schwester von Money Boy wäre! Der hat neulich ein Foto mit ihr gepostet und die sah ihm so ähnlich. (lacht)

    grim104: Ich habe das neulich einer Arbeitskollegin gezeigt und die meinte zu mir: »Warum gibt es das nicht mal mit einer coolen Rapperin?« Und dann hat sie mir Musik von Jungle Pussy gezeigt. Das fand ich richtig gut, aber irgendwie bekommt das in Deutschland keiner hin.

    Testo: Das denke ich mir auch. Es fehlt eigentlich ein cooler schwuler Rapper und eine coole Rapperin.

    grim104: Ich finde Sookee mittlerweile echt ganz cool. Auf »Lila Samt« kann ich mich schon einigen.

    Testo: Ja, definitiv. Früher schwang mir da immer zu viel der Zeigefinger mit. Schwesta Ewa gibt’s noch.

  • Ja, aber Ewa wird auch nie unabhängig von ihrer Rotlichtvergangenheit oder ihrem biologischen Geschlecht gesehen. Das findet immer Erwähnung.

  • grim104: Das wird bei Sookee auch immer mitkommuniziert.

  • Du meinst diese diskurslastige Queer-Perspektive? In der Tat. Und bei Männern, die rappen, ist das einfach kein Thema. Nie.

  • grim104: Nö, die kommen einfach und haben halt irgendeine Eigenschaft und das war’s.

    Testo: Es gibt einfach zu wenig Female-Rap in Deutschland, oder? Die machen das nicht, weil die da keinen Bock drauf haben.

    grim104: Ich glaube, dass die schon Bock drauf haben. Aber es ist einfach schwierig. Ich kenne das noch aus der Cypher in der alten Feuerwache in Kreuzberg, wo ich früher gerappt habe. Wenn da eine Frau kommt, verhalten sich alle Typen ganz anders. Die braucht auch nur als Gast kommen, aber selbst dann wird nicht mehr so ins Mikro gebellt. Dann versuchen alle, klug zu rappen und Pseudo-Amewu-Lines zu bringen. (lacht) Auch wenn eine andere Rapperin ganz normal da reinkommt, ist es sofort etwas anderes. Ein bisschen so, wie man mit einem Behinderten umgeht. »Das hast du aber toll gemacht!« Oder: »Für eine Frau bist du aber echt gut.« Diesen Satz habe ich echt schon ein paarmal gehört. Ist echt wahr! Oh Gott, oh Gott …

  • »Bei Facebook sind viel mehr Eltern und Arbeitskollegen. Da unterscheidet sich die Art und Weise meines Schreibens ganz automatisch von Twitter.« (grim104)Auf Twitter teilen
  • Sagst du dieses »Oh Gott, oh Gott!« eigentlich wegen Knut Hansen, den Christian Ulmen bei »Mein neuer Freund« spielt?

  • grim104: Das kann sein. Wobei, nein, ich habe das aus einem Buch »Der Krieg mit den Molchen« von Karel Capek. Das ist ein tschechisches Buch von 1936, das in einer utopischen Welt spielt, in der die Menschen Krieg mit Molchen führen und das den Nationalsozialismus vorausahnt. Das ist richtig super. Die Molche kommen dann aus dem Wasser und haben irgendwann gelernt zu sprechen und können erst mal nur »Oh Gott, oh Gott« und später auch das Wort »Messer« sagen.

    Testo: Kennt ihr diesen Sketch, bei dem Christian Ulmen mit Nora Tschirner auf dem Schrottplatz ist und ruft: »Gib mir mal n dreier Schnörkranz, Huuuude!«? Das war richtig geil. (Gelächter)

  • Apropos Bücher und Lesen: Aus welchem Buch hast du noch mal die Idee mit den Froschaugen für deinen Song »Frosch«?

  • grim104: »Der Nazi & der Friseur« von Edgar Hilsenrath. Der Titel ist nicht besonders gut. Der klingt wie ein Buch über Nazis, das man in der Schule lesen musste.

  • So wie »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«.

  • Testo: Oder »Damals war es Friedrich«. 

  • Was kannst du sonst noch empfehlen?

  • grim104: Jetzt bin ich wieder der Feuilleton-Rapper! (Gelächter) Gerade lese ich den »Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944«. 

  • Gute Wahl. In welcher Form war Christian Kracht da eigentlich genau dran beteiligt?

  • grim104: Der Autor, der das übersetzt hat, hat es zum ersten Mal bei Christian Kracht gesehen. »Pandora im Kongo« von Albert Sánchez Piñol ist auch sehr gut.

  • Testo, was macht eigentlich dein Blog? Bisher bist du über den Eintrag »Der Fleischmagnet« ja noch nicht hinausgekommen.

  • Testo: Das habe ich damals aufgrund der Lesebühne beim splash!-Festival angefangen. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Genau wie das Schreiben bei rap.de als Praktikant. Aber dafür braucht man halt Zeit. Eigentlich habe ich gerade auch Zeit. (Gelächter) Vor allem braucht man aber auch einen Kopf. Und gerade ist mein Kopf sehr in Beschlag. Aber schreiben ist schon geil. Ich würde gerne mal ein Buch schreiben. Aber das mache ich dann, wenn ich zu alt fürs Rappen bin.