Linguist »Wir sind noch mittendrin in diesem Kampf.« (2/2)

Neben Torch und Toni L war Linguist der Dritte bei Advanced Chemistry. ALL GOOD-Autor Philipp Killmann telefonierte mit der mittlerweile als Professor für Linguistik in Hongkong lebenden Deutschrap-Legende.

Linguist

Im ersten Teil des großen ALL GOOD-Interviews erzählt Kofi Yakpo alias Linguist von seinem Aufwachsen in Deutschland und Ghana, von »Fremd im eigenen Land« im Speziellen und von HipHop im Allgemeinen. Linguist hatte immer etwas zu sagen. Da stand er Toni und Torch bei Advanced Chemistry in nichts nach. Im Gegenteil. Vor der Kamera ging von Linguist stets eine besondere Ernsthaftigkeit aus. Zu Recht.

Denn Advanced Chemistry war anspruchsvoll – und ist gerade deshalb vielen bis heute zu unbequem. Anspruchsvoll in jeder Hinsicht: musikalisch und ideologisch, moralisch und politisch. Musikalisch gingen sie neue Wege, ganz zu schweigen von ihren überragenden Live-Qualitäten, und ideologisch standen sie für eine durchaus dogmatische HipHop-Orthodoxie. Moralisch vertraten sie einen radikalen Humanismus und politisch bezogen sie links außen Stellung. Das überforderte schon damals viele. Und überfordert viele bis heute, die den Style von AC verkennen und ihn mit der Arroganz der Nachgeborenen leichtfertig als whack abtun. Dabei steckte HipHop in Deutschland damals noch in den Kinderschuhen. Linguist, Torch und Toni L waren selbst gerade mal Anfang 20. Aber mit »Fremd im eigenen Land« oder »Operation Artikel 3« vermachten sie der Rap-Welt Songs, die auch knapp 30 Jahre später nicht nur immer noch gut hörbar, sondern noch dazu immer noch gesellschaftlich relevant sind. Und wie viele Rapper können das schon von sich behaupten?

Im zweiten Teil des Interviews mit Linguist geht es um die Fragen, warum der HipHop von heute »nicht genug« ist, und was die Verrohung des europäischen und amerikanischen Raps mit der Unterdrückung der Frau zu tun hat. Es geht um seinen Kampf gegen den Imperialismus, es geht darum, was Rick Ross mit P-Square gemeinsam hat, um den Rechtsruck in Deutschland und um Afrika in 300 Jahren sowie um ein unveröffentlichtes Soloalbum.

  • Dein Künstlername war und ist vielleicht immer noch Linguist. Wusstest du von vornherein, dass du tatsächlich Linguist werden würdest oder wie ist der Name zustande gekommen?

  • (lacht) So halb. Dass es die Linguistik gibt, das wusste ich schon mit 16, als ich eines Tages am Uniplatz in Heidelberg am Institut für Linguistik vorbeigelaufen bin. (lacht) Da hab ich außen die Plakette gesehen, auf denen stand »Linguistik« oder »Sprachwissenschaft« Das habe ich dann nachgeschlagen und festgestellt: »Ah, das kann man auch Linguistik nennen.« Dann bin ich da rein und hab den dort sitzenden Studenten überzeugt, mir eine Leihkarte auszustellen, obwohl ich kein Student war. Ab da konnte ich in die Institutsbibliothek und mir Bücher ausleihen. Aber ich hatte auch Einflüsse aus meinem Umfeld: Leute, die mir zur richtigen Zeit das richtige Buch gegeben haben, oder mein mehrsprachiges Aufwachsen selbst – also das Interesse an Sprachen war schon tief in mir verankert. Das waren so parallel verschmolzene Pfade. (lacht)

  • »Mein Sohn findet HipHop langweilig.«Auf Twitter teilen
  • 2004 hast du bei der Bundeszentrale für politische Bildung einen Artikel mit dem Titel »Denn ich bin kein Einzelfall, sondern einer von vielen« veröffentlicht, der den Anteil von Schwarzen an der Entwicklung von HipHop in Deutschland behandelt, der so selten kommuniziert wird. Wieso erschien der Beitrag dort und nicht in einem HipHop-Magazin?

  • (lacht) Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht mehr genau, wie der Artikel da gelandet ist, aber irgendwie fand ich das gut. Da kommen wir wieder zurück auf die gesellschaftliche Anerkennung. Ich fand gut, dass es sozusagen als Teil der Mainstream-Geschichtsschreibung bei der Bundeszentrale für politische Bildung landet. Das drückt ja auch aus, dass es als tatsächliche politische Geschichtsschreibung verstanden wird. Und eben nicht »nur« als Musik. Wenn das jetzt nur in der HipHop-Ecke erschienen wäre, dann wäre das halt so gesehen worden, wie HipHop oft gesehen wird: Da sind ein paar kleine Jungs, die ein bisschen was machen. Aber so erschien es dann eben bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Bei uns – und das ist bei mir bis heute so – war immer die Bereitschaft da, alle möglichen Mittel zu verwenden, um Öffentlichkeit zu erreichen. Natürlich gibt es da Grenzen, was man macht und mit wem man zusammenarbeitet, aber die Bundeszentrale für politische Bildung war für mich immer noch eine Option, die okay war. 

  • Du beendest den Artikel mit dem Satz »HipHop is dead… long live Pop music«. Wolltest du damit bloß provozieren oder hast du das ernsthaft so gesehen?

  • Ich wollte es als Frage in den Raum stellen. Nicht als absolute Aussage, aber auf jeden Fall als Provokation und Anregung zum Nachdenken. Ich habe zwei Kinder. Mein Sohn ist jetzt gerade 14, er ist das jüngere Kind. Ich habe noch eine Tochter, sie ist 21. Und die haben beide einen ganz anderen Bezug zu HipHop. Mein Sohn findet HipHop scheiße und meine Tochter ist da sehr selektiv mit dem, was sie gut findet. Er findet neuen HipHop scheiße, weil er sagt, es sei schlecht. Er selbst spielt Gitarre, Bass, Schlagzeug und singt, er ist ein Musiker. 

    Meine Tochter spielt Klavier und Gitarre und singt wie eine Nachtigall. Sie hat gerade in Guinea, wo meine Kids auch Wurzeln haben, mit ihrer Band Origin ein Album rausgebracht. Das ist Afro-Pop vom Feinsten, durchsetzt mit dem klassischen Manding-Musikstil Westafrikas. Diesen Sommer hat sie mit ihrer Band mehrere Musikvideos in Conakry aufgenommen. Nächstes Jahr möchte sie in Ghana bei Koo Nimo Highlife spielen lernen. Sie sind beide fantastische Musiker! Sie können beide viel mehr, als ich damals konnte, weil sie im Gegensatz zu uns auch in den Genuss von musikalischer Ausbildung gekommen sind. (lacht) Wir mussten uns das ja irgendwie selbst erarbeiten. Meine Kinder sind, wie ich, mit ganz viel afrikanischer und südamerikanischer Musik aufgewachsen, mit Salsa, Latin-Jazz, gutem Soul, mit indischer Musik, mit klassischer Musik und mit: Jazz, Jazz, Jazz. 70 Prozent bei mir im Haus war Jazz – das ist sozusagen die Grundprägung. Da kann ich irgendwie nachvollziehen, warum mein Sohn HipHop heute scheiße findet. Bei so einem Repertoire kann ich das verstehen. Er findet HipHop langweilig, weil es immer der gleiche Beat ist, sich nichts ändert. Alles ist programmiert, ein paar Synthies drüber, das sei total billig, das könne er in zwei Stunden machen. Jetzt ist er gerade bei Bandproben in der Schule, hat eine Rockband, tritt mit ihr auf und übt mit ihnen stundenlang. Die machen Live-Konzerte, touren hier in Hongkong. Das ist für ihn richtige Musik. Er findet die Texte im HipHop dumm, weil es immer nur Gewalt und Sexismus ist, sagt er. Ich lass das jetzt mal so stehen. Aber meine Kinder haben natürlich auch meine Old-School-Rap-Playlist. Und die hören sie gerne, aber die hört auch so um 1996 auf. Und das ist ja schon nicht mehr Old School, das ist ja inzwischen Dinosaurier School oder Archäo School. Old School ist für die Kids von heute ja Mitte der 2000er oder so. 

  • »Von Südafrika bis nach Grönland und von Honduras bis nach Hongkong – alle benutzen die gleichen Akkorde.«Auf Twitter teilen
  • Wenn du sagst, dass deine Playlist 1996 aufhört, heißt das, du hast 1996 auch aufgehört, dich mit HipHop zu beschäftigen?

  • Nee, nee. Ich hör immer mal wieder rein und guck, was es Neues gibt. Ich bin nur nicht mehr begeisterungsfähig. Das Problem ist eigentlich ganz einfach: Es ist die Kommodifizierung von Musik insgesamt, und das ist überhaupt nicht HipHop. Wenn du dir Rick Ross anhörst, dann klingt der genauso wie… (überlegt)… wie P-Square, eine nigerianische Afrobeats-Band. Das sind die gleichen Akkorde, das Soundscape ist das Gleiche. Es sind die gleichen Strophenlängen, es ist alles 16-8-16-8-fade out. Das Problem ist, dass wir in einer ganz stark kommodifizierten Musikkultur leben. HipHop hatte große Innovationskraft, weil es neu war, weil das Medium elektronisch war, weil digitale Musik neu war und weil die Idee, einfach nur über einen Beat zu rappen, neu war. Deshalb war HipHop innovativ und hat Menschen angezogen, die innovativ waren, die Power hatten, die was zu sagen hatten. Heute ist es banal, so zu arbeiten. Alle arbeiten so: von Südafrika bis nach Grönland und von Honduras bis nach Hongkong. Und die benutzen alle die gleichen Akkorde. Mit kleinen Variationen. Und das ist ein großes Problem. Das ist eine Krise. Die Pop-Musik, inklusive HipHop, ist in der Krise. Das heißt nicht, dass es nicht Tausende von kleinen Projekten gibt von Leuten irgendwo in Kasachstan, Tibet, Lesotho, Bremen und Leeds, die geiles Zeug machen. Natürlich gibt es das nach wie vor. Aber der Mainstream, der bei meinem Sohn auf dem YouTube-Channel landet, ist unglaublich uniform. Das ist für mich nicht mehr cutting edge. Deswegen habe ich gesagt, HipHop ist tot. Weil es ist nicht genug. Es reicht nicht. 

  • In einem Interview mit der »Badischen Zeitung« von 2012 sagtest du, dass der Rap heute keine Poesie gepaart mit Leidenschaft mehr habe. Ich glaube, da würden dir einige Rap-Fans widersprechen.

  • Natürlich, klar. Man muss da auch aufpassen, denn natürlich ist es für mich jetzt, wo ich nicht mehr drinstecke, einfach zu sagen: »Hey, ich hab diese Advanced-Chemistry-Geschichte gehabt und kann das deshalb beurteilen und sagen: Als wir das gemacht haben, war alles viel besser.« Das ist ja auch irgendwo normal, dass man zurückschaut und sagt: »Es war alles gut und wir haben das damals besser gemacht oder waren ganz besonders.« Ist ja auch so! Wir waren ja zu einer Zeit da, als es gekocht hat und es der Anfang war. Wo soll diese Energie denn jetzt wieder herkommen nach 30 Jahren HipHop?! Das ist natürlich Quatsch. Es ist ja nicht mehr der gleiche historische Moment. Und es war ein historischer Moment. Natürlich kann man das nicht vergleichen, und das wäre auch ungerecht.

    Aber diesen historischen Moment, den gibt’s immer noch im HipHop – zum Beispiel in Afrika. In Senegal ist HipHop das Hauptsprachrohr der Millionen von jungen arbeitslosen Männern und Frauen geworden gegen die Auswüchse der Machtausübung durch die Eliten. Das ist unglaublich politisch. Ich war 2018 in Senegal auf einer Konferenz in Ziguinchor, einer kleinen Stadt in der Casamance. Und du sitzt da im Taxi und die drehen die Musik auf und es ist unglaublich politisch. Das ist so auf den Punkt, das ist unglaublich, wie klar, wie direkt, wie lyrisch die Themen angesprochen werden, das ist unglaublich gut. Auf YouTube-Channels gibt es Nachrichtensendungen, die auf Wolof gerappt sind, der größten Sprache Senegals. Ganz abgesehen davon, dass die Anwendung von afrikanischen Sprachen in einer postkolonialen Gesellschaft wie Senegal, wo die Leute gezwungen werden, auf Französisch zu lernen, was die »tolle« Prestigesprache ist, eine enorme politische Sprengkraft hat. Das auf Wolof zu machen, ist schon ein politischer Reflex, eine politische Stellungnahme. Und da brennt’s! Die jungen Leute gehen auf die Straße und bei Demonstrationen wird gerappt, das ist ein ganz anderer politischer Einsatz von Lyrik.

    Und so etwas haben wir in Deutschland nicht. Diese Art von Leidenschaft haben wir nicht. Natürlich haben wir Leute, die in ihrem Stübchen sitzen und leidenschaftlich ihre Texte schreiben und sicher auch ganz tolles Zeug machen. Aber es ist nicht eingebettet in politische Kämpfe. Es ist nicht eingebettet in gesellschaftliche Bezüge und Stellungnahmen. Diese Leidenschaft ist nicht da! Und die ist auch in den USA im Mainstream nicht in der Form da. Die gibt es nur noch an den Rändern in den USA, wo HipHop, sagen wir mal, eingepflanzt ist in die politische DNA der afroamerikanischen Communitys. 

  • »Lyrische Entgleisungen und Exzesse müssen auch gesamtgesellschaftlich gesehen werden.«Auf Twitter teilen
  • Wie siehst du als Linguist die sprachliche Entwicklung im Rap?

  • Aus Deutschland bekomme ich ja nicht mehr so viel mit. Im Interview mit dem Institut für Deutsche Sprache ging es ja auch darum, dass es im deutschen Rap immer mal wieder Skandälchen gibt, weil antisemitische oder sexistische Inhalte transportiert werden. Da habe ich gesagt, wie ich das sehe. Ich glaube schon, dass die Künstler und Künstlerinnen natürlich Verantwortung für ihre Lyrics haben, die kann man ja auch gar nicht aus dieser Verantwortung entbinden. Trotzdem müssen solche lyrischen Entgleisungen und Exzesse auch gesamtgesellschaftlich gesehen werden. Die einen machen es halt lyrisch, erzählen Mist, der dumm ist: rassistisch, sexistisch, antisemitisch. Aber Musiker selbst haben relativ wenig Möglichkeiten und Macht, gesellschaftliche Strukturen zu verändern – es sei denn, sie sind wirklich oben an der Spitze und haben ein paar Hundert Millionen auf dem Konto. Es sind Antennen. Man nimmt es auf, man gibt wieder. Und die einen sagen es offen und die andern machen es hinter vorgehaltener Hand, agieren politisch und sind dadurch eigentlich viel destruktiver. Auch wenn sie vor den Kameras natürlich niemals antisemitisches Zeug von sich geben. Das sind die Leute an der Macht. Die wissen, wie man es macht. Das ist der einzige Unterschied.

  • In diesem Interview mit dem Institut für deutsche Sprache sagtest du, dass die Raps in Westafrika weit weniger roh ausfielen als die Rap-Texte in Europa und Amerika, obwohl die Lebensumstände der Menschen viel härter seien. Du sagtest, jeder sollte sich daher die Frage stellen, ob diese verbale Gewalt und Verrohung in den europäischen und amerikanischen Raps in der westlichen Kultur vielleicht tief verwurzelt seien. Diese Frage würde ich gern an dich zurückgeben. (lacht)

  • (lacht) Das ist sicherlich keine Frage, die man schnell aus dem Stegreif beantworten kann. Aber ich meine, es ist ja eine noch sehr rezente Erfindung, dass Frauen in Europa, in den USA oder im gesamten Westen an politischer Macht beteiligt werden. Es ist sehr rezent, dass Frauen irgendeine Form von gesellschaftlicher oder ökonomischer Macht ausüben dürfen. Es ist sehr rezent, dass Frauen bestimmte Rollenbilder erfüllen müssen, dass an sie bestimmte Erwartungen gestellt werden, die sie zu erfüllen haben, die Mutterrolle und so weiter und so fort. Es gibt ganz viele institutionelle und strukturelle Mechanismen, die verhindern, dass Frauen voll und ganz an der Gesellschaft gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem Potenzial teilnehmen können.

    Und jetzt möchte ich das Ganze mal umdrehen. Ich bin damit aufgewachsen, dass es immer hieß, dass die Frauen in Afrika leiden und die Männer alle Machos sind. Aber ich bin aus Ghana nach Deutschland gekommen und hatte vorher noch nie Frauen gesehen, die nicht arbeiten. Ich habe nicht verstanden, dass Frauen zuhause sind. Das kannte ich nicht aus Ghana. Den Begriff Hausfrau kannte ich nicht. Keine einzige Frau in meiner gesamten ghanaischen Familie hat nicht Zeit ihres Lebens gearbeitet. Sie haben auf dem Feld gearbeitet, sind zur Arbeit gegangen, waren in der Ausbildung oder haben studiert. Ich hatte noch nie etwas anderes erlebt! Und als ich 1980/81 nach Deutschland kam und mittags bei meinem Klassenkameraden zu Hause war, dann war da eine Frau mit Schürze, die das Essen serviert hat und nicht bei der Arbeit war – das habe ich nicht verstanden. Wenn da nicht diese aufoktroyierte, ökonomische Dauerkrise wäre, wie die ungerechte Verteilung von Ressourcen der Welt, dann wären Frauen in Afrika viel besser dran, als sie es in Europa sind.

    Ich spreche von Westafrika. Ostafrika und Südafrika ist wieder anders. Afrika ist ein großer Kontinent. Aber gerade in Westafrika haben Frauen traditionell viel mehr Macht gehabt, als es in Europa überhaupt vorstellbar war. Es gibt ein tolles Zitat von einem Aristokraten oder Administrator des präkolonialen Königreichs in Ghana, des Ashanti-Reichs, der in den 1930ern von einem englischen Historiker interviewt wurde, als die Leute noch lebten, die gegen die Engländer gekämpft hatten, bis Ashanti irgendwann von den Engländern erobert wurde. Und der sagte sinngemäß: »Wir haben nie verstanden, warum ihr nie mit unseren Frauen reden wolltet. wenn ihr politische Verhandlungen geführt habt. Aber irgendwann haben wir gecheckt, dass Frauen für euch wertlos sind. Deswegen haben halt wir Männer verhandelt. Aber wir haben nicht verstanden, was für eine Kultur oder was für ein Staatswesen das ist, in dem Frauen keine Macht ausüben.«

    Was du dort in einem Rap- oder Songtext maximal machen kannst, sind verspielte Andeutungen von Sexualität, sexual innuendo, das kannst du machen, das macht jede Kultur. Und sicherlich gibt es auch in Westafrika hier und da Objektifizierung, aber ich behaupte mal: Wenn es eindeutige Objektifizierung gibt, auch visuell, in Clips, dann ist das importiert aus amerikanischen Rap-Videos. Das ist nicht Teil der Darstellung von Frauen in der westafrikanischen Kultur, nicht in der ghanaischen.

  • Das heißt also, aus der Unterdrückung der Frauen in der westlichen Kultur entsteht dann auch so eine verbale Gewalt.

  • Genau! Misogynie. Das Zeug kann man sich nicht anhören. Mein Sohn will das immer abschalten. Wenn das erste Mal das B-Wort kommt, dann ist er raus. Wenn dann in der dritten Zeile das N-Wort kommt, dann ist er ganz raus. Der hat da keinen Bock drauf. Und es ist ihm scheißegal, ob die Person, die das sagt, schwarz ist oder nicht. So bezeichnet man sich nicht in der afrikanischen Kultur. Also in der Kultur, in der er aufgewachsen ist. Er hat eine bikulturelle, also sowohl afrikanische als auch europäische Erziehung genossen, aber so bezeichnet man Menschen eben nicht. Egal, unter welchen Umständen. Vor allem sich selbst nicht! (lacht)

    Zu dem Sexismus hinzu kommt ja noch die ganze Geschichte des Genozids. Die Genozide, die im Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben, aber auch im Kolonialismus. Die Massenvernichtung von Menschen, diese unglaublich brutale politische Kultur, die sich mit dem Erstarken des europäischen Kolonialismus und des Imperialismus in den letzten 400 Jahren ausgebreitet hat, das hat doch auch Folgen für die Art, wie der Westen die Welt sieht. Auch was die Wertigkeiten anbetrifft. Was ist Wert? Was ist ein Mensch wert? Denn wenn Menschen so »wegmachbar« sind, dann kann man sie erst recht verbal »wegmachen«, logisch. Damit fängt es ja meistens an.

    Ich denke, diese Form von exzessiver Gewalt, die der Westen nach außen projiziert hat, die fällt auf ihn zurück. Und da geht ein Stück Menschlichkeit abhanden. Und diese Unmenschlichkeit, diese ständige Konfrontation mit der Unmenschlichkeit, die schlägt sich auch lyrisch nieder. Auch bei den Opfern. Bei den Afroamerikanern, die lange Kämpfe um ihr physisches Überleben haben ausstehen müssen, sie haben sich diese Sprache angeeignet und sie ist Teil ihres Repertoires, wenn sie reflektieren, unter welchen harten Bedingungen das Überleben dort stattgefunden hat. Ich denke, das darf man nicht unterschätzen.

    Deswegen sage ich: Trotz der schweren Lebensumstände in Afrika sind bestimmte solidarische Strukturen da. Afrika wäre schon längst ausgelöscht worden, wenn Afrikaner nicht Überlebensstrategien entwickelt hätten, die solidarisch sind. Traditionelle Strukturen sind noch sehr lebendig. Es gibt Solidargemeinschaften. Es gibt ganz starke Auflagen darüber, wie man spricht. Es gibt Respektsysteme in Bezug darauf, wie man sich gegenseitig bezeichnet. Es gibt Systeme, die die Menschen finanziell und sozial unterstützen. Trotz der unglaublichen, manchmal unwürdigen und unmenschlichen Lebensumstände gibt es immer wieder ganz starke Versuche, die Menschlichkeit hervorzukehren. Und das versuchen wir sicherlich auch im Westen. Aber wir können es nicht mehr, weil dafür ist zu viel schiefgegangen. Dafür haben wir zu viel kaputtgemacht. 

  • »Dieses faschistische und rassistische Gedankengut zieht sich durch die Mitte der Gesellschaft von Deutschland.«Auf Twitter teilen
  • Wie siehst du die aktuelle Entwicklung in Deutschland und in Europa mit dem Rechtsruck, der immer stärker zu werden scheint?

  • Ich denke, jetzt wird die Rechnung bezahlt für Jahrzehnte der Propaganda, die die großen sogenannten bürgerlichen Parteien betrieben haben. Jahrzehntelang wurden die natürlichen Folgen der Globalisierung und Wanderungsbewegungen, die ja durch Europa vor allem in Richtung Norden ausgelöst wurden, erst durch den Kolonialismus und später durch die ökonomischen Veränderungen, als Gefahr dargestellt. Dabei ist die damit verbundene Migration und Flüchtlingsbewegungen ja Normalität. Doch diese Normalität wurde jahrzehntelang als Bedrohung dargestellt, um Stimmen zu gewinnen. Das fing in Deutschland an mit der Kohl-Regierung – das war der Punkt Null. Und den gibt es in allen europäischen politischen Systemen. Man hat daraus politisches Kapital gezogen, um an der Macht zu bleiben, und das ist jetzt nach hinten losgegangen. Das ist der Rechtsruck. CDU und SPD mussten irgendwann passen, weil sie natürlich nicht offen faschistisch agieren können und es auch nicht wollen. Das Gros der CDU ist sicherlich nicht faschistisch. Aber dieses faschistische und rassistische Gedankengut zieht sich durch die Mitte der Gesellschaft von Deutschland und das wurde ausgenutzt, um auf Stimmenfang zu gehen.

    Und man hat sich der Globalisierung verweigert. Der Rest der Welt konnte sich dem aber nicht verweigern. Ghana zum Beispiel wurde in den 80er Jahren gezwungen, ein unglaublich brutales sogenanntes Liberalisierungs-Programm durchzuziehen. Ghana durfte keine Außenzölle mehr erheben, musste alle Zollschranken wegreißen, die Hälfte des Staatsbudgets kürzen und Hunderttausende von Staatsbeamten rausschmeißen, weil das Auflage des Internationalen Währungsfonds war, um die Wirtschaft zu reformieren. Diese globalen Auswüchse der Globalisierungen haben Afrika und Südamerika ja schon in den 80ern erlebt. Neu ist das ja nur für die Europäer. Dass ihre Arbeitsplätze plötzlich gefährdet sind, der Staat schrumpft, dass die sogenannte Liberalisierung und Flexibilisierung zunehmen – das ist im Rest der Welt ja schon in den 70ern und 80ern passiert. Und plötzlich kommt Europa nicht nach, weil Bumerang-mäßig das Monster, das geboren wurde, zurückkommt und seine Kinder frisst. Und dann hat man halt einen sogenannten Rechtsruck. Es ist ein Konstrukt. 

  • Für wie gefährdet hältst du in Anbetracht dessen die Demokratie in Deutschland, worüber in letzter Zeit ja viel gesprochen wird?

  • Ich halte die Demokratie schon lange für gefährdet. Ich halte sie nicht nur für gefährdet, sondern für angegriffen. Spätestens seit es in den 60er Jahren korporatistischer Konsens war, dass ein Großteil der Bevölkerung, sagen wir zwei Drittel, alles kriegt, was man braucht: Schule, Krankenhäuser, Arbeit. Aber es gab ja immer Leute, die nicht mit drin waren. Die Frauen waren in den 60ern nicht mit drin, die ärmsten Schichten waren nicht drin, und heute sind die neuen Immigranten nicht mit drin oder nur irgendwie am Rande der Gesellschaft. Was ist Demokratie? Demokratie war in Deutschland schon immer ein Geschäft, wo nicht alle immer mitgemacht haben, nicht mitmachen sollten, durften, konnten. Ich glaube nicht, dass es jetzt plötzlich einen krisenartigen Einbruch der Demokratie gibt, sondern dass es ein langsamer Erosionsprozess ist. Ich denke nicht, dass es momentan eine besondere Krise gibt. Aber es kippt halt irgendwann. Und jetzt gerade kippt es so ein bisschen. (lacht) 

    Aber kommen wir nochmal auf Westafrika zurück, das find ich immer ganz lehrreich. Wie viele Putschversuche habe ich in Ghana miterlebt? Drei? Drei Putsche, zweimal ist der Staat zusammengebrochen, die Leute haben wieder ganz von vorn angefangen, alles nochmal aufgebaut. Es gab Leute, die auswandern mussten und die wieder zurückkamen nach Ghana und wieder von vorn anfangen mussten und nochmal auswandern mussten und wieder neu anfangen mussten – dreimal neu anfangen. Das ist die Lebenserfahrung von einem ganz großen Teil der Welt! Seit Hunderten von Jahren. Nur weil die Europäer jetzt irgendwie plötzlich feststellen: »Oh, hier tut’s ein bisschen weh und da…« Hey! Geht auf die Straße und kämpft für eure Rechte! Das machen Leute in anderen Ländern auch. Da hab ich jetzt nicht so viel Sympathie, weil ich denke, Europa ist ein arg privilegierter Kontinent, und die kolonialen Ausbeutungsstrukturen sind immer noch da.

  • »Mein Kampf ist jetzt gerade nicht mehr in Deutschland.«Auf Twitter teilen
  • Dadurch, dass die rassistischen Töne in diesem Zuge schärfer und salonfähiger werden, nehmen Diskriminierung und Angriffe auf bestimmte Menschengruppen zu.

  • Klar. Und es gibt da zwei Fronten. Die eine ist innerhalb Deutschlands, wo sich alle Progressiven zusammenschließen und klar Paroli bieten und versuchen müssen, sich mit allen möglichen Mitteln selbst zu verteidigen und dem etwas entgegenzusetzen. Und dann gibt es für mich noch eine andere Front, und das ist die globale Front. (lacht) Ich sehe mich als Panafrikanist. Solange wir Menschen afrikanischer Herkunft nicht die Macht in Afrika selbst zurückerringen und unser Schicksal selbst bestimmen, wird sich der Rassismus – zumindest gegen Schwarze, es gibt ja verschiedene Formen von Rassismus – nicht verändern. Denn der Rassismus wird nur mit Gegenmacht aufzuhalten sein. Wenn Nigeria und Ghana Wirtschaftsmächte werden und einen Aufstieg wie beispielsweise China erleben und Paroli bieten können, Entscheidungen treffen und autonom agieren, dann wirst du sehen, wie schnell es keinen Rassismus mehr gibt gegen Menschen afrikanischer Herkunft. Das wird ganz schnell gehen.

    Mein Kampf ist jetzt gerade nicht mehr in Deutschland. Mein Kampf ist an der globalen Front. Ich bilde afrikanische Doktorats-Studenten aus, ich bin jedes Jahr mehrmals in Afrika. Ich mache Wissenstransfer, ich empfange selbst Impulse, ich bin politisch in afrodiasporische Netzwerke involviert, ich publiziere über afrikanische Sprachen, die unbeschrieben sind – das ist ein Prozess des Empowerments. Aber dieser Prozess wird lange dauern. Der wird nochmal 100, 200 Jahre dauern. Ich mach meinen Teil, irgendwann leg ich mich ins Grab schlafen und dann übernehmen meine Kinder. Das ist ein Prozess. Wir sind noch mittendrin in diesem Kampf. Das ist kein Kampf, der abgeschlossen ist, sondern der beginnt erst gerade. Und in 200, 300 Jahren werden Afrikaner durch Europa laufen – ob als Europäer oder Afrikaner – und es wird keine Probleme geben. Das kann ich dir garantieren. Weil in 300 Jahren wird Afrika da stehen und zwar ganz gewaltig. Das ist die Perspektive, mehr kann man nicht sagen. Das sind 300, 400 Jahre, das sind die geschichtlichen Zyklen. 

  • Das ist eine schöne Perspektive.

  • Das ist eine realistische Perspektive. Wer hätte vor 50 Jahren gedacht, dass China heute da steht, wo es steht? Ich war gerade in Malaysia. Malaysia vor 50 Jahren war ein koloniales Backwater von England. Korea, Indien – das sind Bewegungen, das sind geschichtliche Zyklen. Die dezentralisierte Globalisierung wird weitergehen. Es wird Punkte geben, an denen sich Wohlstand und politische Stabilität entwickeln. Und es ist wichtig, dass die Definitionshoheit und die ökonomische Macht von den jeweiligen Weltregionen zurück errungen wird, um ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Und das ist die kumulative Arbeit von vielen, vielen Menschen.

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  • Kommen wir nochmal auf deine Person zurück. Ich erinnere mich noch an eine ältere Version deiner Website, das war 2002 oder so. Damals waren da noch ein paar Rap-Stücke hochgeladen…

  • Ja. (lacht) So kurze Snippets

  • Waren das deine letzten Ausflüge in den Rap oder rappst du noch?

  • (lacht) Also ich habe seit 2002 eine fertige LP in der Schublade liegen, die ich zusammen mit DJ Mike MD gemacht habe. Aber diese Schublade lasse ich zu gerade. (lacht) 

  • Schade. Veröffentliche sie doch!

  • Ja, das sollte ich machen. Aber Touren, das würde ich nicht mehr machen. (lacht) Kann ich nicht. Es ist zu viel passiert. (lacht)

  • Ich hatte angesichts deiner damaligen Website den Eindruck, als wärst du in der Zeit ein bisschen auf der Suche gewesen. Ich erinnere mich an Sätze wie, dass du in London in einer Frauen-WG gewohnt und in anderen Ländern gelebt hättest. Hast du dich da gerade neusortiert?

  • Ja, auf jeden Fall. Das war eine Zeit, in der ich mir über meine künstlerische Existenz klarwerden und herausfinden musste, was ich machen möchte. Wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten will, wie ich meine Tochter ernähren will, ohne dass ich sozusagen unter die Zahnräder dieses normalen beruflichen Alltags gerate und mich dem ausliefern muss – das war für mich keine Option.

    Und es war der Zeitraum, in dem ich mich gesammelt und gekuckt habe, was es für Alternativen gibt. Ich war dann ein Jahr in London und habe da eine Zeitlang bei meinem Vater gelebt. Das war ein sehr schönes Erlebnis, das mir sehr viel Kraft gegeben hat. Es war auch das letzte bisschen Zeit, die ich mit ihm verbracht habe, bevor er verstorben ist. Dann bin ich zurück nach Deutschland und hab mich erst mal irgendwie durchschlagen müssen, weil für meine Tochter Babymilch und Strampelanzüge gekauft werden mussten. (lacht) Das war gemeinsam mit meiner damaligen Frau, der Mutter meiner Kinder. Da waren viele Baustellen und alles so im Fluss.

    Das Wichtigste für mich war – und da kommen wir wieder auf den HipHop-Geist zurück – Autonomie! Wie erfinde ich mich neu? Wie finde ich einen Lebenssinn und einen Lebensunterhalt und bleibe autonom? Selbstbestimmt, unabhängig und schlaf nicht ein im Kopf und komm unter die Räder? Ich glaube, das haben wir alle drei von Advanced Chemistry geschafft. Wir sind alle drei Menschen geblieben, die ihr eigenes Schicksal gelenkt haben. Und das kommt von HipHop. Das ist der HipHop-Spirit. Das ist das Gefühl, dass wir alles können, wenn wir nur wollen. 

  • Steht ihr eigentlich noch in Kontakt? Seid ihr nach wie vor befreundet?

  • Ja, klar. Gestern erst habe ich mit Torch bei WhatsApp geschrieben. Er kommt mich im April besuchen. Toni L sehe ich immer, wenn ich in Deutschland bin. Unsere Söhne sind befreundet, sein ältester Sohn und mein Sohn sind im gleichen Alter. Das geht alles, business as usual. (lacht)

  • Im Booklet seines Albums »Blauer Samt« dankt Torch dir, Toni L, Boulevard Bou und DJ Suicide dafür, dass es euch gibt. Und er zählt auf, wer von euch in was der Beste ist. Bei dir schreibt er nur »Äh…«. Ein Insider?

  • Ach was, das ist einfach nur Neid! Purer Neid. (lacht)