Tua »Musik war mein heiliger Ort.«

Zehn Jahre nach Veröffentlichung ist »Grau« von Tua auf Platz 64 der Album-Charts eingestiegen. Jan Wehn hat zum Jubiläum bei Tua angerufen, um zwei, drei Fragen zu stellen. Classic call quasi.

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Kürzlich ist Tua mit seinem Debütalbum »Grau« auf Platz 64 der deutschen Albumcharts eingestiegen. Wohlgemerkt mit einer Platte, die vor ziemlich genau zehn Jahren veröffentlicht wurde. Damals steckte Deutschrap in der Krise und von einem Top-100-Entry durfte man zwar träumen, aber daran denken eigentlich eher nicht. Der eine Grund für den verspäteten Charteinstieg ist: »Grau« ist gerade zum ersten Mal auf Vinyl erschienen. Der andere: Tuas Debüt hat es im Verlauf der letzten Dekade zu Klassikerstatus gebracht.

Der visionäre musikalische Charakter, der HipHop neu dachte und mit abseitigen Genres zusammenbrachte. Die Vortragsweise zwischen Rap und Gesang, mit der Tua sich traute, was heute ganz selbstverständlich jeder macht. Und nicht zuletzt der Inhalt. Wie Tua in den Texten aufmachte und nicht nur Härte demonstrierte, sondern auch Gefühle und Emotionen zuließ, war neu. Vollkommen zurecht wird kein anderes Album der Nullerjahre derart oft als unterschätztes Release bezeichnet und auch mit derart langem Abstand immer noch in den Himmel gelobt.

Zum Zehnjährigen ist »Grau« jetzt erstmals auf Vinyl erschienen. Dafür hat Andreas Jung, Tuas Engineer des Vertrauens, nochmal tief in die Audio-Trickkiste gegriffen. Und Tua? Der ist ans Telefon gegangen, als Jan Wehn angerufen hat, um mit etwas Abstand noch einmal über dieses ganz besondere Album zu sprechen.

  • Wann hast du angefangen, an »Grau« zu arbeiten?

  • Ich würde sagen, die ersten Sachen sind 2006 entstanden. Die ganzen Songs-Songs – »MDMA«, »Für immer«, »Endpunkt« oder »Bruder« – waren alles Geschichten, die sich in den Jahren bis 2009 zugetragen hatten und von denen ich wusste, dass sie Themen für Songs sein könnten. Dementsprechend gab es da schon einige Skizzen und Ur-Versionen. Als es dann mit dem Album losging, habe ich die geremixt, umgebaut, noch mal aufgenommen und innerhalb von zwei oder drei Monaten alles zu diesem Album zusammengetragen. 

  • »Breakbeats und Trance-Sounds, die klingen, als ob sie aus einer sibirischen Disco entlehnt sind.«Auf Twitter teilen
  • Also schon relativ schnell.

  • Ja, total. Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, was ich für einen Sound will: Breakbeats und Trance-Sounds, die klingen, als ob sie aus einer sibirischen Disco entlehnt sind. Akkorde, die sich anhören, als würde man gegen ein großes Metallstück donnern. Auto-Tune-Samples und Vocal-Gefrickel, das man davor und danach nie wieder gehört hat. (lacht)

  • In einem Interview bei den Kollegen von MZEE.com im Rahmen der Veröffentlichung hast du damals von einem roten Faden im Hinblick auf den musikalischen Aspekt gesprochen, wolltest das aber nicht näher ausführen. Magst du das jetzt vielleicht mal tun?

  • Ich habe mir das Album gerade noch mal angehört. Ich war zu dem Zeitpunkt als Mensch noch sehr unreif, aber als Künstler eigentlich nicht. Als ich »Grau« zusammengetragen habe, habe ich mich auf alles besonnen, was mich bis zu dem Zeitpunkt musikalisch fasziniert hat – und das war eben Früh-90er-Trip-Hop und breakbeatlastige Big-Beat-Sachen wie The Prodigy. Ich mochte skandinavische, englische und russische Musik. Als Kind habe ich super viel Trance mitbekommen – vermutlich eher »schlechte« Musik, die aber einen gewissen Charme hatte. Und HipHop, klar. Aber nicht die amerikanischen Sachen, die zu der Zeit gerade die Diskussion der Stunde waren, sondern eher allgemeingültigeres Zeug. All diese Sachen sind in diesem Album. (überlegt) Viele Flächen, aber auch Verspieltes. Wenn ich das jetzt höre, finde ich das in seiner Gnadenlosigkeit irgendwie geil und charmant. Das ist ja etwas, das einem als Mensch und Künstler über die Jahre verloren geht. Mit Anfang 20, wenn man technisch alles kann, und dann glaubt, das Rad neu zu erfinden, kommen dabei manchmal geile und wilde Sachen raus. 

  • Wie kamen die Sachen denn vor der Veröffentlichung in deinem Umfeld an?

  • Mein direktes Umfeld hatte größtenteils einen ganz anderen Geschmack, irgendwelche Holzrussenmucke, türkischen Pop oder meinetwegen Ami-Rap. Was ich gemacht hab, haben sie nicht wirklich verstanden. Musik war mein heiliger Ort und ich habe dementsprechend sehr viel alleine daran gearbeitet. Fast schon ein bisschen schizophren: Ich bin ins Studio gefahren, habe da diese abgedrehte Emo-Scheiße gemacht, die irgendwo auf der Welt, aber sicher nicht an der Tankstelle in einem Rudel von Gestörten in einem kleinen süddeutschen Kaff zuhause war. Aber das Album lebt von genau dieser Dualität: In diesem Umfeld habe ich super viele Geschichten erlebt und dementsprechend Themen da rausgezogen, die ich dann im Studio in eine ganz andere Sprache übersetzt habe. Ganz unabhängig davon, würde ich sagen: Von meinen Künstlerfreunden habe ich schon viel Zuspruch bekommen, während die Rapperfreunde lieber Doubletime und coole Reimketten von mir wollten…

  • »Ich mag die Freigeistigkeit, die dieses Album hatte.«Auf Twitter teilen
  • …während du lieber gesungen hast. Das war ja schon revolutionär.

  • Wenn ich mir das Album heute anhöre, dann klingen manche Songs echt so, als ob man sie auch heute noch veröffentlichen könnte. Ich habe heute Morgen bei Spotify diese »ALTAR«-Playliste gehört, in der total freigeistige Electro-Sachen drin waren und manche Songs von »Grau« passen da perfekt rein. Ich mag die Freigeistigkeit, die dieses Album hatte. Dazu gehört ja auch das Singen. Ich war und bin nach wie vor Fan von Melodien in der Musik. Das ist etwas Schönes und ich freue mich darüber. Damals habe ich irgendwann gemerkt, dass mir Rappen im klassischen Sinne nicht genügt, um das zu machen, was ich gerne machen möchte. War das revolutionär? Ich weiß nicht. Ja, vielleicht schon. Ich weiß, dass ich damals viel mit Auto-Tune, dem Pitchen von Formanten und allem möglichen hin- und herschieben gemacht habe. Eigentlich erstaunlich, wie das heute gar nicht mehr wegzudenken ist. (lacht) Es gab natürlich schon Auto-Tune, aber man hat es nicht benutzt. 

  • Es gab doch vermutlich auch noch gar keine Tutorials zu solchen technischen Fragen, oder?

  • Doch, allerdings echt wenige – und die habe ich nicht geguckt. Aber ich muss sagen, dass ich YouTube damals schon als große Sample- und Ideenquelle genutzt. Es war für mich – vielleicht auch, weil ich aus einer Kleinstadt kam – schon immer wichtig, in einen ganz anderen Äther reinzuhören. In meinem Umfeld in Reutlingen gab es einfach nicht so viele Impulse, die großgeistig genug gewesen wären, als dass sie mich geflasht hätten. Das war alles okay, aber eben auch sehr klein. Dementsprechend habe ich sehr früh sehr viel Internetrecherche betrieben. Außerdem gab’s damals noch Videotheken. Einer finster ranzigen in Gerlingen haben wir das Michael-Ende-Sample für »Es regnet« zu verdanken. 

  • Was hört man denn noch auf »Grau«? Vielleicht gar nicht so sehr musikalisch, sondern eher als Idee, ausgelöst durch Filme, Dokumentationen, Interviews und dergleichen?

  • Das Album ist ja in einer Zeit entstanden, in der es noch kein Streaming, sondern nur solche Programme wie Napster gab. Ich habe mitgeschnitten, dass es Warp Records und Aphex Twin gibt, mir auch mal ein paar Videos angeschaut und etwas heruntergeladen. Aber ich konnte nicht wie heute alles konsumieren. Es war mehr so eine Vorahnung, ein erster Eindruck, ein oberflächliches Verständnis von Underground-Popkultur – das hat mir aber auch gereicht, um damit zu arbeiten. So nach dem Motto »Ah, okay, so in der Art funktioniert das!« Fertig. Ein gutes Beispiel dafür ist »Endpunkt«. In dem Moment war ich der Meinung, dass ich wüsste, wie dieses ganze IDM-Ding funktioniert: Einfach ein Weiterspinnen von Wahnsinn. Weil ich das unbedingt mal probieren wollte, habe ich diesen Song, in dem es um einen schlechten Trip geht als Form dafür genommen. Ich hatte aber überhaupt in Gänze verstanden, wie EDM funktioniert oder was die Regeln sind und ob es überhaupt welche gibt. Das war genau das richtige Maß an Ahnungslosigkeit mit einem Schubs in die richtige Richtung. Das trifft im Übrigen auf viele musikalische Momente von »Grau« zu. (lacht) Erst in den Jahren darauf habe ich gemerkt, dass manche Sachen nur so Ideen zur so halbgar umgesetzt waren und habe mir das noch mal richtig draufgeschafft. Ich habe die elektronische Musikhistorie richtig studiert, einzelne Stile nachgebaut und in Gänze verstanden, worüber ich dann fast schon zum Fachidioten geworden bin, während ich damals nur ein oberflächliches Verständnis von den Dingen hatte. Mehr als das braucht man eigentlich gar nicht.

  • Wie sah dein Set-Up damals aus?

  • Ich hatte einen PC, so einen richtigen Tower. (lacht) Es gab zu der Zeit bereits Macs, aber ich war damals schon hängengeblieben und bin auch heute noch der eine Typ, der Windows benutzt. Dazu gab es noch ein MIDI-Keyboard, fertig. Im Großen und Ganzen war es das eigentlich auch schon. Aber genau diese Limitierung war irgendwie geil. Ich habe so lange an den immer gleichen Plastik-Sounds rumgebastelt, dass ich irgendwann herausgefunden habe, wie ich sie bearbeiten muss, damit sie ein bisschen weniger nach Plastik oder einfach schmutziger klingen. Insofern war dieses einfach gestrickte Set-Up schon wichtig.

  • »Das ist damals entstanden, weil ich Sachen gemacht habe, die man auf gar keinen Fall machen sollte.«Auf Twitter teilen
  • Womit hast du produziert?

  • Mit Cubase und Reason. In Cubase habe ich die Vocals aufgenommen und die Audiobearbeitung vorgenommen. In Reason habe ich ganz viel Drums programmiert, alles in Cubase exportiert und da noch weiterbearbeitet. Teilweise habe ich Spuren immer wieder übereinandergelegt, rausgebounced und weiterbearbeitet. Auf diese Weise sind ganz viele dieser Glitch-Effekte entstanden. Manchmal habe ich den Song, ganz am Ende, wenn er schon fertig und rausgebounced war, noch mal zerstückelt und getimestreched habe, um so DJ-artige Effekte hinzubekommen. Bei »Unter Druck« oder »Nachtschattengewächs« hört man Sounds, die man heute von DJs kennt, die »Effectrix« und solche Sachen benutzen. Das ist damals entstanden, weil ich Sachen gemacht habe, die man auf gar keinen Fall machen sollte. (lacht) Ich habe mich beim Durchhören vorhin echt total gefreut – das war alles so geil-blöd. Aber warum denn eigentlich nicht? (lacht) Im Grunde war das echt die große Frage: Warum denn eigentlich nicht?

  • Woher hattest du die Samples?

  • Ich war damals sehr stolz drauf, so gut wie keine Samples zu benutzen. Ich weiß noch, wie mein Homie Baykar mich immer verarscht hat, wenn ich gesagt habe, dass meine Beats keine Samples haben – und ich habe das sehr oft erwähnt! (lacht) Wenn ich die Tracklist jetzt noch mal überfliege, muss ich sagen, dass es wirklich nicht viele Samples auf der Platte gibt. Natürlich gibt es viele Sounds und ganz kurze Samplefetzen, aber klassische Loops über vier Bars eigentlich kein einziges. Doch, bei »Ohne Titel« schon. Irgendetwas Türkisches.

  • »Auf dem Album finden sich wirklich die absurdesten Querverweise, die man so erstmal gar nicht erwarten würde.« Auf Twitter teilen
  • Ich meinte tatsächlich auch eher diese kleinen Schnipsel.

  • Ja, die kamen aus irgendwelchen Soundbanks, die ich durchgewälzt habe. Damals gab es ja auch noch CDs mit fünfeinhalb Millionen AKAI-Sounds – im WAV-Format, 16bit, mono. (lacht) Bei »Grau« habe ich dann das erste Mal damit begonnen, solche Sounds zu sammeln. Ich habe dann wirklich einzelne Ordner gemacht und zusammenpassende Samples, Sounds und Drums dort abgelegt. Das kam mir natürlich alles zu Gute, als ich dann alles für das letztendliche Album zusammenzutragen. Aber wo die Sounds herkamen? Ganz unterschiedlich. Bei »Dein Lächeln« gibt es zum Beispiel auch ein »Eyyyyy!« von Barrington Levy. Auf dem Album finden sich wirklich die absurdesten Querverweise, die man so erstmal gar nicht erwarten würde. Der, ich sage Mal, Ostblock-Sound ist dadurch entstanden, dass ich ähnlich klingenden Linien nachgespielt habe. Bei »Problem« hört man gegen Ende zum Beispiel eine sehr eigenartige Flöten-Line, die ich auch nicht gesamplet, sondern eingespielt habe. 

  • Wenn wir schon von »Problem« sprechen: Wie kam das Feature mit Kool Savas zustande?

  • Das kam schon 2006 zustande. Savas war damals bei uns im Studio in Reutlingen, weil er zu der Zeit viel mit Sucuk Ufuk und Kaas gemacht hat. Bei einer Session habe ich ihm einen Beat gezeigt und gefragt, ob er nicht einen 16er darauf machen möchte. Er wollte und ich habe mich riesig gefreut. Der Verse lag dann ewig rum und als ich das Album gemacht habe, wurde daraus dann ein ganzer Song. Ich habe den Vibe des Beats auch noch mal komplett neu gemacht und alles um den Part von Savas herumgebaut. Ich weiß noch ganz genau, dass ich meinen Part auf einer Busfahrt vom Hamburger Flughafen zu Deluxe Records geschrieben habe. (rappt) »Ich wünschte mir, diese Stadt wär nich‘ so ekelhaft voller Leben / und so unperfekt, ich vermeide jede Begegnung«. Da hatte ich auf jeden Fall schlechte Laune. (lacht)

  • Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass Hamburg auch eine Rolle auf dem Album spielt. Dabei ist das eigentlich nur logisch, weil du ja bei Deluxe Records unter Vertrag standest.

  • Doch, die Stadt hatte schon einen großen Einfluss. Ich war super oft dort durch die Labelsituation, wir haben das »Dein Lächeln«-Video dort gedreht. Samy und die Leute, die damals dort gearbeitet haben, hatten einen vergleichsweise großen Horizont im Vergleich zu meinem nahen Umfeld, weshalb ich schon viel Austausch gesucht habe. Ich war viel oben, habe Songs vorgespielt und mit denen diskutiert. 

  • Worüber habt ihr diskutiert?

  • »MDMA« gab es zum Beispiel in einer noch viel spacigeren Version, die viel future-mäßiger klang, bis sie zu dem wurde, dass sie jetzt ist. (überlegt) Ich wollte »rockiger« sagen, aber das ist ja gar nicht so rockig, sondern eher…plastik, ne, keine Ahnung. Das ist so absurde Musik. (lacht) Es gab, genau wie bei »Dein Lächeln« auf jeden Fall ein paar vorherige Versionen, die sich sehr von denen unterscheiden, die dann erschienen sind. 

  • Wo hast du eigentlich überall an dem Album gearbeitet?

  • Am Anfang noch in dem Studio in Reutlingen, das sich unterm Dach im Bahnhof befand. Freunde von uns haben das gemietet und ich war da eigentlich immer am Start, bis es irgendwann meins war. »Für immer«, »Problem«, »Kyrie Eleison« oder »Bruder«, also gerade die älteren Songs, sind dort entstanden. Dann gab es das BQ-Studio von Ufuk, Kaas, mir und einer ganzen Horde anderer Leute. Das befand sich in einem teilweise total zerschossenen und zerfallenen Industrie-Komplex ohne fließend Wasser, war aber trotzdem eine Art Jugendhaus. Aber man konnte auch Musik machen. Es gab einen PC, wacke Boxen, ein MIDI-Keyboard und eine selbstgebaute Booth, die alles nur keine gutklingende Aufnahmemöglichkeit geboten hat. Und in Stuttgart bei Jens im sogenannten Würfel ist auch viel passiert – ein legendärer Ort, an dem auch das erste Orsons-Album, viel von Maeckes & Plan B und Kool Savas, der dort mal eine Zeit lang Mieter war, entstanden ist. Da wurde wirklich viel Stuttgarter HipHop-Geschichte geschrieben. Im Würfel ist eigentlich das meiste entstanden. Das war ein richtig gut isolierter Raum mit Regie und Aufnahmeplatz und zwei Rechnern, an denen man sitzen konnte.

  • »Wie ein Vampir war ich.« Auf Twitter teilen
  • Hattest du einen Tagesablauf?

  • In der Endphase des Albums, also in der Zeit im Würfel, bin ich immer mittags aufgestanden. Dann habe ich irgendwas Ungesundes gegessen und mich sofort vor dem Rechner vergraben. Über Monate, um zu feilen, alles zehn Mal aufzunehmen, wieder zu feilen und nochmal aufzunehmen. Und so weiter. Wie ein Vampir war ich. (lacht) Ich habe zu der Zeit dann bei Jens und seiner Frau Kerstin gewohnt. Irgendwann nachts kam er dann, weil er zu der Zeit bei UPS Spätschichten geschoben hat, völlig zerknüppelt heim und hat sich angehört, was ich den Tag über gemacht habe. Das war ein richtiges Ritual: Er hat sich seinen Abschlussjoint gebaut und sich das angehört – und bis dahin musste ich mich mit dem, woran ich gerade gearbeitet habe, fertig sein, damit wir anschließend darüber reden konnten. Und seine Kerstin hat uns bekocht! Manchmal habe ich echt gedacht, was die beiden wohl von mir denken müssen: »Der lebt so ein Vampirleben, macht diese komische Musik und wird wahrscheinlich nie mehr verschwinden!« (lacht) Aber die beiden haben mich echt total unterstützt. Kerstin war in der Zeit wie eine Schwester für mich und hat mich und meine Chaoten-Psyche nicht nur ein Mal verarztet. Sie musste sich all die Frauen-, Gangster- und Absturzgeschichten anhören. (lacht) 

  • Hast du zu der Zeit gejobbt oder schon von der Musik leben können?

  • Ich hatte ja schon ein paar Auftritte und Touren und Releases. Dementsprechend kam ein bisschen Geld bei der Musiksache rum, aber eher schlecht als recht. Anfangs habe ich auch noch gejobbt. So 400-Euro-Kram halt: Baustelle, Glaswolle aus der Decke ziehen und so eine Kacke. Da konnte ich noch nicht von der Musik leben. Der letzte Job, den ich gemacht habe, war dann das Sortieren von Briefen für irgendeine Privatpost oder so ein Scheiß. Das habe ich, als es in den Endspurt ging, aber bleiben lassen.

  • Ganz abgesehen von der Musik und den Jobs: Wie sah dein Leben zu der Zeit als du an dem Album gearbeitet hast aus?

  • 2006 habe ich meine Schule geschmissen. Ich war bis dahin auf dem Gymnasium, aber irgendwie zu doof dafür, hatte zig Mal die Schule gewechselt und auch einfach keinen Bock mehr. Ich wusste eh, dass ich nicht studieren, sondern Musik machen will und bin mit einem »Fickt euch alle!« da raus. Ich hatte eine ganze wacke 1-Zimmer-Wohnung im Souterrain, ein richtig ekliges Rattenloch. Mein Leben bestand zu gleichen Teilen aus Musikmachen wie ein Vampir und absurden Aktionen aus meinem Umfeld. Super viele Drogen, viele Parties, Frauen klären, keine richtige Beziehung führen, keinerlei Verantwortung für irgendetwas übernehmen. Super asozial. Wir haben ganz viele Sachen gemacht, die ich heute teilweise überhaupt nicht mehr fassen kann und bei denen ich mich frage, wie dumm man eigentlich sein kann. Aber wir waren Anfang 20 und voll im Modus.

  • »Ich habe das erlebt und unmittelbar verarbeitet.«Auf Twitter teilen
  • Sind die Stücke mit Erinnerungen an die damalige Zeit verknüpft?

  • Klar, es werden ja viele Stories behandelt, die in meinem Umfeld passiert sind. Es steckt ganz viel aus dieser Zeit in dem Album. »Bilder« sind Stories aus Reutlingen, die ich verfeinert und dann zu diesem Song zusammengesetzt habe. In den ersten beiden Strophen geht es um die verschiedenen Blickwinkel auf eine Geschichte, die dritte Strophe ist noch mal etwas rauer. Es gab damals einen Kumpel von mir, der bei voller Fahrt und zugekokst den Arm aus dem Fenster seines Wagens gehalten hat und dann gegen die Leitplanke gerast ist. Der hatte Glück im Unglück und man konnte das wieder flicken, in dem man ihm den Latissimus an die Stelle verpflanzt hat, die er sich gequetscht hat, aber danach waren die Gelenke versteift. Das war ein krasser Einschnitt in seinem Leben und ist unmittelbar in der Zeit passiert, als ich die Songs recordet habe, weshalb dieses oder andere Bilder dann Eingang in die Songs gefunden haben. 

    Generell dieses Bilder-Ding… Ich sage auf dem Album ja auch »Der Maler wird zum Bild« – das war das System, in dem ich gelebt habe: Ich habe in dieser Blase aus verrückten Leuten und Exzess gelebt und ich habe das dann in meditativen Momenten mit mir allein im Studio verarbeitet. Künstlerisch gesehen war das ein sehr ertragreiches System, menschlich war es allerdings super wack. Mit so einem Leben wird man nicht glücklich. Wenn man sich da nicht löst, wandert man irgendwann in den Knast oder geht irgendwann an Drogen kaputt. Aber genau das habe ich ja irgendwann geschafft. »Bruder« war die Geschichte von einem Freund von mir, die auch die Jahre danach noch eine Rolle gespielt hat. »MDMA« auch. »Für immer« waren eher Stories aus zurückliegenden Tagen. Aber »Ohne Titel« und »Endpunkt« sind genau in der Zeit wirklich so passiert. In meiner Clique gab es viele Leuten, die getickt haben und es war einfach immer genug Stuff vorhanden – egal ob man Koksen, Saufen, Kiffen, Speed haben oder sich Teile reinstopfen wollte. Es gab immer jemanden, der was hatte und es war möglich, sich zu jeder Tag- oder Nachtzeit hart wegzuknüppeln. Das habe ich dann auch in Gänze gemacht, wodurch Songs wie »Endpunkt« entstanden sind. Bei dem Track war es auch wieder so: Ich habe das erlebt und unmittelbar verarbeitet und vielleicht eine Woche nach dem Erlebnis darüber geschrieben. 

  • Was du erzählst, macht noch mal deutlich, wie persönlich dieses Album eigentlich ist. Ich habe »Grau« lange Zeit aus einer musikalischen Perspektive als etwas Besonderes wahrgenommen. Ich habe in der Vorbereitung auf das Gespräch noch mal ein paar Rezensionen gelesen und mein Kollegen Wenzel Burmeier hat das Album in der »Juice« als »Blaupause für unverkrampfte Emotionalität in der deutschen Raplandschaft« bezeichnet.

  • Man hört dem Album ja eine gewisse Härte an. Eine Kühle, eine Dringlichkeit, eine Attitüde – einfach all das, was 20-Jährige nun mal haben, die in einem solchen Umfeld groß werden. Aber genau das hat mir die Möglichkeit gegeben, ganz direkt über all meine Emotionen zu sprechen. Tatsächlich ist es auch das, wozu mich auch nach den zehn Jahren immer noch die meisten Nachrichten erreichen. Das Album hat Leuten durch eine schwere Zeit geholfen. Da geht es nicht um den Style und die Musik, sondern darum, dass Leute sich von genau dieser Mischung aus Härte und Dringlichkeit, aber auch Emotionalität angesprochen gefühlt haben.

  • Aber wie war das denn in dem Moment, in dem das Album erschienen ist? Wie war das Feedback auf die konkrete Veröffentlichung?

  • Ich habe eine ganz konkrete Erinnerung: Ich war kurz vor Release in Hamburg und bin dann mit Kaas in seinem Auto wieder zurück nach Stuttgart gefahren. Wir haben zu der Zeit ja auch an seinem Album »TAFKAAZ« gearbeitet, was ich immer noch genial finde. Aber auf der Fahrt habe ich ihm das erste Mal »Grau« in Gänze vorgespielt und er war total begeistert davon. Ich weiß noch, dass ich zu ihm gesagt habe: »Ich glaube nicht, dass die Leute das verstehen werden, aber eigentlich ist es auch egal.« Ich glaube, ich habe schon während der Autofahrt gemerkt, dass ich krank werde und als ich dann wieder in Reutlingen war, habe ich richtig Fieber bekommen und war anderthalb Wochen ausgeknockt. Vielleicht war es Zufall, vielleicht hat mein Körper auch einfach gemerkt, dass ich vier Jahre nonstop gearbeitet habe. Das Album kam dann in der gleichen Woche raus und ist leider nicht gechartet, auch wenn ich mir das sehr gewünscht hätte. Damals war das ja alles andere als gewöhnlich für Rap und ich habe total gehofft, dass das Album wenigstens irgendwo einsteigt. Platz 70 oder so. Irgendwas, bei dem ich sagen kann, dass ich in den Charts war. Da war ich sehr enttäuscht. Ich hätte halt gerne einen Richtwert gehabt, damals waren diese ganzen Verkaufszahlen, Streams und YouTube-Klicks ja noch gar nicht so verfügbar wie heute. Heute schwappt dir etwas von einem Künstler entgegen und du weißt drei Mausklicks später, wie erfolgreich der ist. Auch, wenn ich nicht gechartet bin, gab es dann aber trotzdem einen kleinen Aufschwung: Viele Bookings, ich war Support bei K.I.Z und bei Samy, ich habe eine eigene Tour gespielt und Casper, Kaas und ich waren zusammen unterwegs. Gefühlt habe ich das ganze Jahr nur Konzerte gespielt.

  • Wie war das?

  • Das war einerseits schön, weil ein bisschen Kohle kam, andererseits war ich live damals auch noch super scheiße. Ich konnte das noch gar nicht stehen und war als Künstler noch nicht ansatzweise so weit wie die Musik. Ich habe mich nicht gefühlt, war total verjunkt, habe dauernd gezogen, gesoffen, mich dumm benommen, geprügelt, in Interviews keinen geraden Satz gesagt und stand völlig neben mir. Ich konnte der Musik in Interviews, bei Live-Shows oder Begegnungen einfach noch nicht das nötige Gesicht geben und denke, dass ich durch dieses Unvermögen da im Nachhinein auch viele der Türen, die ich mit dem Album aufgestoßen habe, wieder zugemacht habe. Vielleicht hätte ich das damals sonst schon heimholen können. Bei meinen eigenen Gigs und Support-Shows war ich auch in den Jahren danach immer super unzufrieden. Ich würde sagen, dass ich erst 2016 für mich entdeckt habe, wie ich das alles auf die Bühne bringen will.

  • »Ich war ein total zerrissener Typ, der überhaupt nicht wusste, wer er ist.« Auf Twitter teilen
  • Würdest du heute mit dem Abstand irgendetwas an dem Album anders machen?

  • (überlegt) Ich hätte vielleicht viel mehr bei mir sein und diese ganze Street-Scheiße auf Abstand halten müssen. Die Drogen, all das, was mich als Person viel kleiner gemacht hat. Ich dachte damals, dass mich das ausmacht, weil das so viel in meine Musik mit eingeflossen ist – dabei hat mich das klein gemacht. Mich hat das in meiner Persönlichkeitsentwicklung behindert, darin, bei mir selbst zu sein und hat dazu geführt, dass ich zehn verschiedene Leute, aber nur nicht ich selber war. Das hat man natürlich allenthalben gemerkt – auf der Bühne, in Interviews, beim persönlichen Aufeinandertreffen. Ich war ein total zerrissener Typ, der überhaupt nicht wusste, wer er ist. Der Weg von da dorthin, wo ich jetzt bin, war schon echt weit. Was mir aber aufgefallen ist: Die Musik ist hingegen nicht weit davon entfernt. Ich höre das Album und finde es geil, aber die Person dahinter ist wirklich unendlich weit weg von mir. Das ist für mich das Spannende an dem Album.

  • Du hast ja auch neulich etwas in die Richtung getwittert: »Wisst ihr, ich sitz in der Sonne, meine beiden Kinder spielen um mich rum und das Leben ist gut. Wenn ich denke, wie es sich zu ›Grau‹ angefühlt hat, bin ich einfach nur dankbar. Alles hat seine Zeit.«

  • (überlegt) Ich wollte damals genau dieses System sein, ich wollte diese vertraute Leere spüren – so wie in »Nachtschattengewächs«. Als ob ich darauf hingearbeitet hätte, mit Ende 20 zu sterben. »Ich werd‘ vielleicht 30, so wie mein Lifestyle is‘«, rappe ich auf dem Album ja auch. Ich hatte zu der Zeit wirklich das Gefühl, dass ich nicht lange leben werde. Mein Umfeld, meine Freunde, mein ganzes Leben war einfach auf einer ganz anderen Spur. Aber irgendwann ist mir klargeworden, dass ich das nicht will. Als ich 24 war, haben wir das erste Kind bekommen, sind nach Berlin gezogen und durch diese anderen Umstände und die Distanz zu meinem bisherigen Umfeld, hat nach und nach ein großes Umdenken stattgefunden. Am Anfang habe ich mir in Berlin eine ganz ähnliche Belegschaft gesucht, aber bin dann Stück für Stück davon weg und habe einen neuen Horizont bekommen. Die persönliche Entwicklung prägt natürlich ganz entscheidend, was man als Künstler macht. Das merke ich besonders deutlich, wenn ich heute auf »Grau« zurückschaue.