Max Herre »Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte« - ein Song und seine Geschichte

»Viele Menschen schrecken zurück, wenn sie Geschichte hören. Geschichte – vier langweilige Stunden pro Woche in der Schule.« Mit sachte gerecktem Zeigefinger eröffnete Max Herre 1997 die erste Single aus dem epochalen Freundeskreis-Debüt »Quadratur des Kreises«.

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Mittlerweile gilt »Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte« selbst als (HipHop-)Zeitdokument. Aber auch 17 Jahre nach seiner Entstehung ist das im Song verfolgte Konzept noch immer einzigartig. Dass »Maximilian und sein Freundeskreis«, wie die Formation um Max Herre damals noch hieß, einen ganz neuen Style ins Spiel bringen würde, war schon anno 1996 klar: Damals erschien die verspielt geklimperte und erfrischend mellow gerappte Ur-Version von »A.N.N.A.«. Im Jahr darauf folgte dann der riesige Freundeskreis-Impact mit »Quadratur des Kreises« – angeschoben von dem großartigen »Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte«. Wir haben mit Max über die Entstehung dieses Meilensteins gesprochen.

  • Was war damals deine Motivation, diesen Song zu schreiben?

  • Wie bei allen anderen Songs, die ich mache, inspiriert mich natürlich die Musik. Es gab ein Instrumental von Don Philippe. Viele der Skizzen unserer damaligen Songs kamen von ihm. Und das war wieder so ein Loop, der mir einfach Spaß gemacht hat und dessen Atmosphäre mir quasi die Geschichte diktiert hat. Oft sind das bestimmte Akkordstrukturen, die in mir ein bestimmtes Gefühl auslösen. Ich weiß nicht mal mehr, ob erst die Gesangs-Line mit diesem »You’re just a part of it« da war. Was aber gut sein könnte, da ich oft erst mal etwas summe oder Dada-Raps mache. Der Song hat zwar schon eine eigene inhaltliche Kategorie aufgemacht, aber grundsätzlich ist er in der Tradition der Reminisce-Songs: »Back in the days when I was young«, damals hab ich dieses und jenes erlebt – so eine Art Song eben. Was den Song aber inhaltlich ein bisschen größer gemacht hat, war eben meine Herangehensweise, das eigene Leben in Bezug zu setzen zu den Dingen, die um einen herum passieren. Diese Idee, dass man ein Teil von etwas Größerem ist. Und dass Geschichte und Politik nicht abgetrennt sind von den Menschen – und eben auch nicht abgetrennt von meiner Biografie, sondern mein Leben beeinflussen. Dass jeder, einfach weil er da ist, auch eine politische und geschichtliche Person ist.

  • Gleich zu Beginn des Songs nennst du dein Geburtsjahr, danach geht es sofort los mit Chile und der CIA. Hast du den Song mit dem Finger im Geschichtsbuch geschrieben?

  • Die erste Strophe gar nicht. Damals bin ich zum Schreiben zwei Wochen nach Ägypten gefahren, und dort ist der Text entstanden – am Stück und ohne Geschichtsbuch, sondern einfach mit dem, was ich so wusste. Im Booklet von »FK10« ist auch die Textseite aus meinem Rhymebook abgedruckt, und da ist ganz gut zu sehen, dass ich die Strophe  mit ein paar wenigen Ausbesserungen und durchgestrichenen Sachen an einem Stück runtergeschrieben habe – was ich sonst sehr selten schaffe. Das sind auch recht kurze Strophen, für damalige Verhältnisse sowieso: Zwölfer hat eigentlich niemand gemacht. Du musstest mindestens Sechzehner schreiben, interessant wurde es ab 24. Das war also ein sehr kompakter Song. Jedenfalls hab ich von der ersten Strophe ein Demo aufgenommen, das wir damals bei unserem Label Groove Attack vorgespielt haben. Da gab es nur diese Strophe, und über die wurde ziemlich kontrovers gesprochen: Die von Groove Attack haben’s gefeiert, der A&R von Intercord, mit denen wir das eigentlich zusammen machen wollten, meinte, er würde sich so was von einem 23-Jährigen eigentlich nicht anhören wollen. (lacht) Ich wollte aber meine Geschichte anhand von geschichtlichen Daten und anderen Biografien erzählen. Der Kernsatz des Songs ist auch aus der ersten Strophe: »Indes ‚ne Mutter mit Sohn in Kambodscha den Schuss zu spät sah/Er wär‘ wie ich jetzt 23.« Das ist der Moment, wo man das ganz Große – das, was ganz weit weg erscheint – wieder ganz klein macht und Nähe erzeugt. Wenn man unter anderen Umständen geboren wird – und das ist einfach ein Zufall -, dann verläuft so ein Leben auch ganz anders.

  • »Ich wollte meine Geschichte anhand von geschichtlichen Daten und anderen Biografien erzählen.« Auf Twitter teilen
  • Im Intro hast du schon antizipiert, dass das Thema für manche Leute schwere Kost darstellen könnte: »Viele Menschen schrecken zurück, wenn sie Geschichte hören.«

  • Ja, krasses Intro. Das würde man heute vielleicht anders machen. (lacht)

  • Hattest du die Befürchtung, dass es schwierig werden könnte, damit Leute zu erreichen?

  • Es war ja dann überhaupt nicht schwierig, im Gegenteil: Für Freundeskreis war das der Türöffner. Natürlich lag das auch daran, dass es musikalisch interessant war. Aber den Song mochten sehr viele Leute, das Thema hat viele Menschen interessiert. Mit dem Intro wollte ich gleich mit diesem Missverständnis aufräumen, dass Geschichte etwas ist, was in Büchern steht und lange her ist. Vielmehr, dass Geschichte etwas ist, das jeden Tag geschrieben wird und wovon man ein Teil ist.

  • Viele der angesprochenen Themen – Tschernobyl, ABC-Waffen, Kalter Krieg – sind eigentlich große Weltpolitik, aber damals hat man das auch als Mensch in Deutschland hautnah miterlebt. Glaubst du, dass damals ein größeres geschichtliches bzw. politisches Interesse herrschte als heute?

  • Durch die Bipolarität des Kalten Kriegs und dadurch, dass man damals Gut und Böse, Oben und Unten, Links und Rechts einfacher auseinanderdividieren und sich dadurch leichter auf eine Seite schlagen und Position beziehen konnte, war es vielleicht einfacher. Ich glaube, dass wir heute in einer noch komplizierteren Welt leben, man die Dinge noch differenzierter betrachten muss und wir uns deswegen auch unserer eigenen Widersprüchlichkeit viel schneller bewusst werden. Deswegen es ist heute sicher schwerer, klare Positionen zu beziehen – und sie auch laut zu beziehen. Ich bin halt in diese Zeit reingeboren und hab das aufgeschrieben, weil das ein Teil meiner Sozialisation ist. Ich war eben ein Kind in den Siebzigern und Achtzigern und wir haben tatsächlich auf der Straße Fußball gespielt, als die Nachricht noch zurückgehalten wurde, dass in Tschernobyl was passiert war. Ich war auch mit meinen Eltern unter anderem auf diesen Demonstrationen gegen das Wettrüsten in Europa. Da kamen viele tausend Leute, die Angst vor einem Atomkrieg vor unserer Haustür war allgegenwärtig, die Friedensbewegung war damals riesig. Natürlich hab ich das als Kind nicht alles bewusst mitgemacht, aber das hat mein Denken bis heute beeinflusst. In der dritten Strophe rückt das auch wieder näher: Als ich 19 bis 23 war, war der Jugoslawienkrieg, die Übergriffe auf Asylbewerberheime, der erste Golfkrieg, das alles war sehr präsent. Schon mit 17 oder 18 hab ich für mich entschieden, dass ich nicht nur ein Kind politischer Eltern bin, und mich selbst politisiert. Und das natürlich anhand der Dinge, die damals akut waren. Und so hat man in der Schule und im Freundeskreis angefangen, sich zu positionieren und eine Meinung zu haben.

  • »Meine alten Songs sind für mich in gewisser Weise Zeitdokumente, die auch als solche funktionieren und Bestand haben.«Auf Twitter teilen
  • Wenn du »Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte« heute hörst oder spielst, was fühlst du da?

  • Ich mag den Song. Wir haben ihn ja letztens auch beim »Unplugged« gespielt. Ich geh natürlich nicht mehr in das rein, was ich da geschrieben hab. Das steht da, und das verändere ich auch nicht mehr. »Er wär wie ich jetzt 23« – auch das sage ich jetzt einfach so. Ich werde da nicht weitermachen und jeweils mein aktuelles Alter einfügen. Das ist für mich ein feststehendes Ding, das ich zu einer bestimmten Zeit geschrieben hab. Ich mag den Song auch musikalisch nach wie vor gerne. Und ich bringe ihn auch gerne noch auf die Bühne, denn es ist ja für mein Publikum auch cool, den live zu hören und mitzusingen. Und daraus ziehe ich natürlich auch etwas. Mit dem »Unplugged«, wo wir ja auch noch Bläser und Streicher hatten, ist er auch soundmäßig noch mal ein bisschen gewachsen. Wenn ich diese Songs von damals mit meinen heutigen Kriterien ans Texten betrachte, dann gibt es natürlich auch mal den Moment, an dem man über das eigene Pathos schmunzelt; wo man manchmal denkt: Okay, das ist jetzt ein bisschen übers Ziel hinaus. (lacht) Aber ich hab da schon einen gewissen Abstand dazu. Die alten Songs sind für mich in gewisser Weise Zeitdokumente, die auch als solche funktionieren und Bestand haben.

  • Gibt’s eigentlich eine besondere Anekdote zu »Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte«, die du erzählen könntest?

  • Faith Evans ist auf dem Song. Das ist ja die Baby Mama von Biggies Kind und neben Mary J. Blige wohl die größte HipHop-R&B-Sängerin. Und neulich hab ich eine Platte von ihr angehört und dabei tatsächlich diesen Adlib gefunden, den Frico auf dem Song gescratcht hat. Ach ja: Und damals, als die Platte gerade draußen war, bekam ich auf einmal einen Anruf von Udo Lindenberg. Wir hatten ja auf »Quadratur des Kreises« mit »Immer wenn ich down bin« ein Lied von ihm gecovert und ich dachte, er würde deswegen Kontakt aufnehmen. Aber er bezog sich explizit auf »Leg dein Ohr …«. Er fand den Song richtig gut und wollte mal bei uns vorbeikommen – und kam dann auch tatsächlich nach Stuttgart. Für mich war das eine sehr surreale Szene. Udo und das Panikorchester war nämlich das erste Rockkonzert, auf dem ich als Kind mit elf Jahren war. Das ist etwas, das dieser Song gemacht hat: Er hat uns Udo Lindenberg ins Studio gebracht. Und dieses großartige Erlebnis verbinde auch bis heute mit diesem Song.

  • Hast du ihm erzählt, dass du auf seinem Konzert warst?

  • Ja. Das weiß er. »Götterhämmerung«, 1984 in der Schleyerhalle. Ich bin mir auch sicher, dass er mir damals gewunken hat. (lacht) Neulich war ich mit meinem großen Sohn auf dem Konzert von A$AP Rocky, was meines Erachtens eher ein Hosting als ein Konzert war. Aber für meinen Sohn war das so, dass er danach sagte: Jetzt hab ich Lust, da oben auf der Bühne zu stehen. Für mich war das eher so: Okay, hoffentlich verfliegt das bald wieder. (lacht) Aber für mich war interessant, dass ich dieses Gefühl nachempfinden konnte – bei mir war es eben damals dieses Konzert von Udo Lindenberg. Da dachte ich mir auch: Da oben zu sein, das wäre cool. Aber mein Sohn wurde dann doch noch eines Besseren belehrt: Danach war er auf einem J.Cole-Konzert, und da hat sich das mit A$AP Rocky dann doch sehr relativiert.