Jamel Shabazz »Ich bin kein Hip-Hop-Fotograf!«

Mit seinen Bildern von Jugendlichen aus dem New York der 70er und 80er Jahre ist Jamel Shabazz einer der wichtigsten Chronisten der HipHop-Kultur geworden. Aber er ist vielmehr als das. Ein Gespräch über HipHop, seine Geschichte und Gegenwart.

Jamel Shabazz

Eine Sache stellt Jamel Shabazz bereits vor dem Interview klar: »Ich bin kein Hip-Hop-Fotograf!« Shabazz ist Fotograf. Punkt. Nichtsdestotrotz hat er als solcher ein gutes Stück HipHop-Geschichte dokumentiert. Davon zeugen seine beiden Bildbände »Back In The Days« und »A Time Before Crack«, die vor allem Fotos von Jugendlichen aus dem New York der 70er und 80er Jahre zeigen. Außerdem hat er HipHop-Größen wie Grandmaster Flash, Public Enemy, The Roots oder Kanye West, aber auch Genre-fernere Musiker wie Earth, Wind & Fire, Grover Washington Jr. oder Roy Ayers fotografiert. 2005 waren seine Bilder in Berlin zu sehen, in diesem Jahr will er sie in Köln ausstellen. Ein Gespräch mit Jamel Shabazz über sein Verhältnis zu HipHop, die Zeit vor und nach der Crack-Epidemie und weshalb er mit der Dokumentation »Jamel Shabazz – Street Photographer« von Charlie Ahearn (»Wild Style«), die in Kürze über ihn erscheinen soll, nicht sehr glücklich ist.

  • Der Journalist Claude Grunitzky hat dich mal als »das Gedächtnis der HipHop-Nation« beschrieben. Du selbst lehnst aber die Bezeichnung »HipHop-Fotograf« für dich ab. Inwiefern siehst du dich überhaupt als Teil der HipHop-Szene?

  • Ich weiß Claudes Beschreibung von mir wirklich sehr zu schätzen, schließlich war ich von Anbeginn ein Teil der HipHop-Szene, noch bevor man überhaupt von »HipHop« sprach. Ich bin in den Red-Hook-Projects im Brooklyn der 60er und 70er Jahre aufgewachsen und dort das erste Mal mit dem in Berührung gekommen, was heute ein internationales Phänomen ist: HipHop. Das war 1975. Damals gab es dort eine ernstzunehmende Crew von MCs und DJs namens Disco Enforcers. In den Sommermonaten jammten sie im Park. Damals verlor ich mein Herz an diese neue Art von Musik. 

    Zwei Jahre später wurde ich als Soldat in Deutschland stationiert, südlich von Stuttgart. Und wie viele andere Soldaten auch besorgte ich mir dort als erstes ein ordentliches Soundsystem, um mit meiner Pioneer 707-Bandmaschine meine eigenen Mixtapes aufzunehmen. Meine ersten Bänder beinhalteten die Funky Four Plus One, Kurtis Blow, Joe Bataan, Positive Force, »Rapper’s Delight« und natürlich den Godfather of HipHop: Gil Scott-Heron. Was übrigens vielen nicht bewusst ist: Es waren US-Soldaten, die HipHop über die Militärstationen innerhalb der USA, in Europa und Asien erstmals in die Welt hinaustrugen.

    Für mich persönlich war HipHop eine unmittelbare Reflektion des Vibes und der Energie des Brooklyns, aus dem ich selbst stammte. Deshalb sahen die meisten von uns – zumindest die aus dem Osten des Landes kamen – in HipHop etwas, das uns gehört. Ich bin mit einem guten Gefühl für Musik und Mixing gesegnet und wollte damals, 1979, sogar meine eigene Crew gründen. MC Divine, ebenfalls Soldat und aus Brooklyn, war der Rapper. Aber für meinen Geschmack fluchte er zu viel, während ich dieses neue Kommunikationsmittel lieber nutzen wollte, um die Leute aufzuklären. Ich habe auf jeden Fall eine ansehnliche Sammlung alter Mixtapes. 

  • Tatsächlich ist der Einfluss US-amerikanischer Soldaten auf die Entwicklung von HipHop in Deutschland unbestreitbar. Auf diese Weise ist eines der ersten deutschen Rap-Alben überhaupt entstanden. Die Gruppe Blaque bestand aus zwei in Hessisch Oldendorf stationierten amerikanischen Soldaten und einem jungen Sascha »Busy« Bühren aus Bad Oeynhausen und veröffentlichte über das Major-Label EMI 1991 das Album »It’s A Blaque Thing«. Aber zurück zu deinen DJ-Skills: Was ist daraus geworden?

  • Den Großteil meiner Freizeit widmete ich irgendwann meiner ersten Liebe: der Fotografie. Aber ich höre mir meine Mixtapes aus der Zeit von 1978 bis 1990 immer noch sehr gerne an. Deshalb möchte ich auf meinen künftigen Ausstellungen, meine eigene Musik miteinbringen und an den Turntables eine Atmosphäre schaffen, die wirklich wiedergibt, wer ich bin und was ich repräsentiere.

  • In HipHop-Kreisen bist du vor allem für deine Fotos von jungen Menschen aus der HipHop-Szene der 70er und 80er Jahre bekannt. Machst du immer noch Fotos von Menschen auf der Straße?

  • Ich habe heute eine große Bandbreite an Fotomotiven, darunter Jugendkulturen in den USA und der ganzen Welt. Die Jugend macht immer noch rund 50 Prozent meiner Fotomotive aus. Aber ich habe meine Motive nie als HipHopper gesehen. Für mich waren sie einfach junge Menschen mit einem einzigartigen Kleidungsstil und Swagger, der leider allzu oft missverstanden wird.

  • »Für mich waren sie einfach junge Menschen mit einem einzigartigen Kleidungsstil und Swagger, der leider allzu oft missverstanden wird.«Auf Twitter teilen
  • Wieso richtest du deinen Fokus so stark auf die Jugend?

  • Ich fokussiere mich besonders auf die Jugend, weil sie die Zukunft repräsentiert und am stärksten Gefahr läuft, dem System zum Opfer zu fallen.

  • Was für einen Unterschied siehst du zwischen den B-Boys und B-Girls der 80er Jahre und den Leuten aus der HipHop-Szene von heute?

  • Die sozialen Medien zeigen mir, dass der Stil der B-Boys und B-Girls universell geworden ist. Das war in den 70ern und 80ern anders. Damals hatte jede amerikanische Stadt ihren eigenen Kleidungsstil und machte sich damit von jeder anderen klar unterscheidbar. Man sah den Leuten an ihren Klamotten an, woher sie kamen. In den 90ern wurde HipHop dann durch MTV ein internationales Phänomen, und die Zuschauer fingen an, sich wie die Leute im Fernsehen zu kleiden und sich mit ihnen zu identifizieren. Vor ein paar Jahren besuchte ich zwei große B-Boy-/B-Girl-Battles in Brasilien und Südkorea und wurde dort Zeuge, wie HipHop stilistisch und tänzerisch praktisch auf der ganzen Welt vertreten ist. Die Musik und der Tanz, die das Fundament von HipHop bilden, sind heute universelle Ausdrucksformen, die junge Menschen von Alaska bis Zambia begeistern.

  • Man kennt dich auch als Fotograf, der der »Source« zuarbeitete. Aber du hast nicht wirklich auftragsweise für etablierte HipHop-Künstler gearbeitet, oder?

  • 2008 hat mich der Comedian Dave Chapelle dazu eingeladen, eine große Blockparty in meiner Heimat Brooklyn zu dokumentieren. Dort hatte ich Gelegenheit, ein paar der größten Conscious-Rapper überhaupt zu fotografieren: The Roots, dead prez, Jill Scott, die Fugees, Big Daddy Kane, Yassin Bey alias Mos Def, Kanye West und einige andere. Und erst vor wenigen Monaten wurde ich von Nas‘ Camp gebeten, ein Foto für sein Albumcover zu schießen. Leider habe ich es aufgrund meines vollen Terminplans nicht geschafft. Dafür arbeite ich mit Nas zurzeit an seiner Klamottenlinie »HSTRY«. 

  • Kannst du von deinen Bildern leben?

  • Ich tue das nicht, um davon leben zu können. Mir geht es vielmehr darum, etwas zu dem Erhalt der Geschichte und Kultur meiner Community beizutragen, aber auch darüber hinaus. Wenn ich von meiner Arbeit als Fotograf leben wollte, wäre mir das möglich, indem ich große Mengen limitierter Drucke verkaufen und kommerzielle Aufträge annehmen würde.

  • In deinen Büchern »Back In The Days« und »A Time Before Crack« sind überwiegend fröhlich und gesund aussehende junge Menschen zu sehen, die du in den 70er und 80er Jahren fotografiert hast. Inwieweit haben sich New York und die Menschen dort im Zuge der Crack-Epidemie in den 80er Jahren verändert?

  • Die meisten Fotos, die ich in den 80ern gemacht habe, sind unter der Prämisse entstanden, die Zeit vor der Crack-Epidemie zu dokumentieren. Auf diesen Bildern findest du fröhliche, hoffnungsvolle und gesunde Menschen. Als Mitte der 80er Jahre Crack in Umlauf gebracht wurde, fiel das zeitlich eng zusammen mit dem Film »Scarface«. Der Film fand bei vielen benachteiligten Jugendlichen großen Anklang. Viele von ihnen sahen in dem Film eine tolle Anleitung, um aus der Armut rauszukommen und mit leicht verdientem Geld ein besseres Leben zu führen. Das war natürlich eine Illusion. 

    In dieser Zeit veränderte sich das Leben, so wie ich es kannte, für immer. Crack zerstörte praktisch jeden einzelnen Lebensbereich innerhalb der Communities. Ganz normale Menschen verfielen der Verlockung kurzweiliger Befriedigung, die Crack ihnen bot: die einen durch den zehnminütigen euphorischen Crack-Rausch, die anderen durch die Möglichkeit, mit Crack in kurzer Zeit viel Geld zu machen. Sehr viele gute Leute wurden Junkies oder Dealer. Und viele unschuldige Menschen fielen den täglichen Auseinandersetzungen auf der Straße und Revierkämpfen von Drogendealern zum Opfer. Ganze Stadtviertel gingen den Bach runter.

    Die Regierung startete einen großen Krieg gegen die Drogen. Die Polizei erhielt grünes Licht, zu tun, was auch immer zu tun war, um die Crack-Epidemie zu stoppen. Es wurde viel Geld in den Ausbau von Gefängnissen investiert. Und es wurden neue Gesetz erlassen, die harte und unfaire Strafen für jedermann nach sich zogen, der in Besitz von Crack war. Ich sah wie meine Community von dieser Entwicklung auf die denkbar schlimmste Art und Weise betroffen war.

    Anständige Frauen verkauften für dieses Gift ihre Seele, ein Bruder richtete sich gegen den anderen. Auf den Straßen von Amerika kamen plötzlich Uzis zum Einsatz und die Anzahl der Todesopfer und Gefängnisinsassen schnellte in die Höhe. Am Ende hatten alle verloren – Leben wurden ruiniert, Leute verloren ihr Zuhause. Tragischerweise sind die Folgen bis heute spürbar. Infolge ungerechtfertigter Strafen kommen manche Leute erst heute aus dem Gefängnis. Sie sind gebrochen und leiden unter posttraumatischer Belastungsstörung. Dazu kommen unzählige Kinder, die ihre Angehörigen an Crack verloren haben oder sogar mit Crack in ihrem Blut zur Welt gekommen sind und bis heute damit zu kämpfen haben. Die Auswirkungen der Crack-Epidemie sind nicht mehr auszulöschen.

  • Hat die Crack-Epidemie deine Arbeit als Fotograf verändert? Wurde es schwieriger, die Menschen zu fotografieren?

  • Die Crack-Epidemie hat meine Arbeit definitiv verändert. Ich merkte schon früh, dass mein Umfeld in Schwierigkeiten war. Und als ein weitsichtiger Beobachter war es meine Pflicht, dieser schrecklichen Epidemie mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln etwas entgegenzusetzen. Als jemand von der Straße war ich in der Lage, mit vielen jungen Menschen darüber zu sprechen, was um uns herum vorging, und die Gefahr, die uns bedrohte. Und als etablierter Fotograf hatte ich Zugang zu vielen verschiedenen Menschen, sodass ich mehr denn je darauf bedacht war, Alarm zu schlagen. Im Grunde habe ich durch Crack in dieser Zeit besonders viele Menschen fotografiert.

  • Sind diese Bilder auch veröffentlicht worden?

  • Aus dieser Zeit sind nur wenige Bilder veröffentlicht worden. In »Back In The Days: The Remix« habe ich ein paar dieser Bilder erstmals gezeigt. Bei den Motiven handelt es sich hauptsächlich um Zuhälter und Prostituierte. Aber es braucht schon ein sehr scharfes Auge, um sie zu erkennen und zu sehen, was in dem jeweiligen Bild vorgeht. 

  • »Ich kann mich nur darüber wundern, wie leichtgläubige Menschen tagtäglich in die Fallen der Selbstzerstörung treten.«Auf Twitter teilen
  • Wie hast du damals versucht, der Crack-Epidemie etwas entgegenzusetzen?

  • Indem ich die Menschen in meiner Community schlichtweg vor der Gefahr gewarnt habe, der wir ausgesetzt waren. Ich habe meine persönlichen Erfahrungen mit der ähnlich zerstörerischen Heroin-Epidemie, von der unsere Community in den 70er Jahren betroffen war, geteilt. Ich habe mit meiner Kamera viel Zeit auf der Straße verbracht, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Einige haben mir zugehört, andere nicht. Aber die Aussicht, schnelles Geld zu verdienen oder auf den Crack-Rausch nahm weit mehr Menschen in Beschlag, als ich in der Lage gewesen wäre zu erreichen.

    Heute erkenne ich die anhaltende Zerstörung, die sowohl die Crack- als auch die AIDS-Epidemie nach sich zog: zerrüttete und dysfunktionale Familien, Gentrifikation, Obdachlosigkeit, Geisteskrankheiten, Selbsthass und nunmehr ein neues und verbessertes Gift, das ich »visuelles Crack« nenne. Damit meine ich die Ignoranz, die zur Hauptsendezeit im Fernsehen durch sogenannte Reality-Shows verbreitet wird. Da werden die schlechten Seiten von Menschen bloßgestellt: von Frauen, die nicht wissen, wer die Väter ihrer Kinder sind, bis hin zu Prügeleien, zu denen sie von Fernsehproduzenten angestachelt werden, um hohe Einschaltquoten zu erzielen. Ich kann mich nur darüber wundern, wie leichtgläubige Menschen tagtäglich in diese Fallen der Selbstzerstörung treten. Bedauerlicherweise – das haben Sozialwissenschaftler herausgefunden – gibt es in den sogenannten afroamerikanischen Communities inzwischen zwei verlorene Generationen, denen höchstwahrscheinlich eine dritte folgen wird.

  • Du hast mal gesagt, dass dir die Gespräche, die du mit den Menschen führst, die du fotografierst, wichtiger sind als die Fotos. Was machst du mit all diesen Geschichten? Oder versuchst du, sie mit deinen Bildern zu erzählen?

  • Genau so ist es. Mein Hauptziel war es, mit den ganz normalen Menschen auf der Straße in Kontakt zu treten und ein Gefühl dafür zu bekommen, was los ist. Zu viele junge Menschen sind durch die Hände anderer junger Menschen gestorben. Daher hatte ich das dringende Bedürfnis, direkt an der Front zu kämpfen. Dabei wurde die Kamera mein wichtigstes Werkzeug, um auf Menschen zuzugehen und mehr über sie zu erfahren. In den vergangenen drei Jahrzehnten habe ich Hunderte wunderbarer Geschichten gesammelt. Ich hoffe, sie und weitere Fotos in naher Zukunft in einem neuen Buch veröffentlichen zu können.

  • Du willst also nicht nur die Bilder zeigen, sondern auch die dahinterstehenden Geschichten erzählen?

  • Damit die Bedeutung meiner Arbeit wirklich verstanden wird, muss ich die Geschichten der Fotos erklären – sowohl aus meiner Sicht als auch aus der des Subjekts. Natürlich können über Fotos immer unendlich viele Geschichten erzählt werden, aber um ein Bild wirklich nachvollziehen zu können, bedarf es der Erklärung des Fotografen. Ich mache jedenfalls oft die Erfahrung, dass wenn ich meine Bilder vor einem Publikum erkläre, es oft sehr erstaunt ist, wie viel mehr hinter einem Bild steckt. 

  • Du hast zwar viele Fotos von anderen gemacht, von dir selbst scheint es jedoch nicht viele Bilder zu geben, als meidest du die Öffentlichkeit. Trotzdem hast du eingewilligt, Charlie Ahearn eine Dokumentation über dich drehen zu lassen.

  • Tatsächlich ziehe ich es vor, hinter der Kamera zu stehen. Charlie kam auf mich zu, als ich mich an einem Scheideweg in meinem Leben befand. Es war eine Zeit, in der ich mich noch von einem jahrelang andauernden Trauma erholte. Vielleicht wollte ich einfach mit jemandem darüber reden. Ich habe viele Fehler in meinem Leben gemacht, und dass ein Film in einer Zeit über mich gedreht wurde, in der ich noch einige Dinge verarbeiten musste – auch damit muss ich leben. Der Film selbst handelt von den Geschichten einiger Leute, die ich fotografiert habe. Was mich selbst anbetrifft, so gibt es viel zu viele Fehler in meiner persönlichen Geschichte; dazu bin ich noch sehr reserviert, wenn es darum geht, meine unverfälschte Geschichte zu erzählen. Trotzdem weiß ich es zu schätzen, dass Charlie meine Arbeit und Vision respektiert und sie dokumentieren wollte. Aber um ehrlich zu sein, hat der Film in mir eine sehr missliche Stimmung bewirkt. 

  • Wieso?

  • Der Film zeigt nicht, wie ich wirklich arbeite. Zu meinem Bedauern habe ich die Leute auf der Straße auf eine Weise angesprochen, wie ich es normalerweise nicht tue. Außerdem habe ich es versäumt, gewisse Probleme zu thematisieren. Und leider war ich damals nicht in der Lage, diese Gedanken mit dem Filmemacher zu teilen. Aber seitdem habe ich mich und meine Rolle als Künstler besser verstanden und dafür werde ich Harry Belafonte, der mir das vorlebte, für immer dankbar sein.