Brian Coleman »Ich bin bis jetzt noch keinem Künstler begegnet, der nicht in der Vergangenheit schwelgen wollte.«

Dieser Tage veröffentlicht US-Autor Brian Coleman den zweiten Teil seines Buches »Check The Technique«, in dem er in faszinierender Tiefe die Liner Notes für einige Genre-Klassiker liefert. Für ALL GOOD beantwortete er ein paar Fragen zu dem Werk.

Brian Coleman

Die große Zeit von Liner Notes ist leider vorbei. Doch gibt es immer noch Menschen, die für diese Kunstform der Geschichten hinter der Musik kämpfen. Brian Coleman aus Boston ist Musik-Journalist, Cratedigger und durch sein Label Get On Down verantwortlich für einige der außergewöhnlichsten und umfangreichsten Re-Releases der letzten Jahre. Außerdem ist er Autor der Liner-Notes-Bände »Rakim Told Me« und »Check The Technique«. Dieser Tage erscheint der zweite Teil von »Check The Technique« – ein Wälzer voller Hintergrundgeschichten und In-Depth-Interviews über die Entstehung der größten Klassiker unseres Genres. Coleman entlockte Mantronix, KMD, Masta Ace, Biz Markie, Beatnuts, Company Flow, Mos Def & Talib Kweli, Ice Cube, Jeru The Damaja, Raekwon und vielen anderen faszinierende Details. Die ohne Wertung auskommenden Entstehungsgeschichten beantworten lange offen gebliebene Fragen, die Track-by-Track-Gespräche liefern weitere Details darüber, wie verschiedene Genre-Klassiker entstanden sind.

Check The Technique_Cover

  • Was fasziniert dich an den Geschichten hinter der Musik?

  • Ich war schon immer daran interessiert, mehr über Künstler und ihre kreative Arbeit zu erfahren. Diese Informationen waren besonders im HipHop sehr schwer zugänglich und waren deswegen noch faszinierender. Ich bin ein Digger, ich suche nach Platten. Und ich digge eben genauso nach Informationen. Und diese Erkenntnisse möchte ich nicht für mich selbst behalten, sondern mit andern teilen. 

  • Macht eine gute Hintergrundgeschichte Musik besser?

  • Mit einem Wort: Ja!

  • Kann eine schlechte Geschichte gute Musik schlecht machen? 

  • Ich finde, es gibt keine schlechte Story. Jeder Künstler geht unterschiedlich an den kreativen Prozess, Musik zu machen, heran. Nimm zum Beispiel Milli Vanilli. Klar war es ein Schock für die Fans, als klar wurde, dass sie die Songs nicht selbst gesungen haben. Aber, hey, das waren Milli-Vanilli-Fans – die haben die Scheiße gefeiert und völlig verdient, dass ihre Welt zerstört wurde. Es wäre 1.000 Mal schlimmer, wenn herauskommen würde, dass Marley Marl nie »The Symphony« oder Big Daddy Kanes »Raw« produziert hätte. Gott sei Dank ist er ein Genie und hat beides produziert. 

  • Wie lange hast du an deinem neuen Buch gearbeitet?

  • Die ältesten Sachen von »Check The Technique Vol. 2« sind von 2006, also die Kapitel über Stetsasonic, KMD und Ice Cube. Zwischen 2007 und 2013 habe ich quasi überhaupt nicht an dem Buch gearbeitet. Im letzten Jahr hat es mich aber in den Fingern gejuckt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich das Projekt ad acta gelegt habe. Also habe ich mir selbst in den Hintern getreten und wollte dann nicht nur einen zweiten, sondern einen noch viel besseren Teil machen. Das ist mir auch gelungen. 

  • »Ich bin bis jetzt noch keinem Künstler begegnet, der nicht in der Vergangenheit schwelgen und sich an die Entstehung dieser Klassiker erinnern wollte.« Auf Twitter teilen
  • Adam Mansbach erwähnt in der Einleitung die »Blackbox der künstlerischen Methodologie«. Hattest du das Gefühl, dass die Künstler dir einen echten Einblick in ihre Kunst gegeben haben?

  • Ich glaube ja. Ich bin bis jetzt noch keinem Künstler begegnet, der nicht in der Vergangenheit schwelgen und sich an die Entstehung dieser Klassiker erinnern wollte. Die meisten sind im Gespräch sehr schnell aufgetaut und ganz oft hatte man gegen Ende des Interviews so eine Nähe entwickelt, dass einige wirklich interessante Details zum Vorschein kamen. Wenn man den Punkt erreicht, an dem der Gesprächspartner merkt, dass man wirklich an ihm interessiert und nicht nur auf der Suche nach ein paar starken Zitaten ist, öffnen sich die meisten. 

  • Ist es im Rap besonders schwer, hinter die Kulissen zu blicken und Hintergrundinformationen über die Entstehungsgeschichten von Klassikern zu bekommen? 

  • Glaube ich nicht. Manchmal wollen die Produzenten nicht über Samples sprechen, wenn sie sie nie gecleart haben. Aber in den meisten Fällen waren alle immer sehr offen zu mir. Es kommt auch sehr darauf an, wie man ein Interview angeht. Ich habe keinerlei Interesse daran, dreckige Wäsche zu waschen, alte Wunden aufzubrechen oder irgendwelche Sensationen auszugraben. Ich möchte meinen Gesprächspartnern einfach nur die Chance geben, ihre Geschichte zu erzählen.  

  • Oftmals haben wir uns ja auch selbst die verrücktesten Geschichten über die Entstehung unser liebsten Alben zusammengereimt. Aber am Ende saßen eben nur ein paar Typen im Studio und haben dort etwas aufgenommen. Oder nicht?

  • Nein, überhaupt nicht. Das finde ich gar nicht. Da hast du auf jeden Fall die falschen Künstler getroffen. (lacht) Oder ich bin einfach nur wahnsinnig. Mich fasziniert einfach diese kreative Arbeit von Künstlern. Ich finde, die sind alle einzigartig.  

  • »Ich wollte nie eine Liste der besten Alben aller Zeiten zusammenstellen.«Auf Twitter teilen
  • Du hältst dich ganz bewusst mit einer Wertung in dem Buch zurück. Die einzige Bewertung erfolgt eigentlich über die Auswahl der besprochenen Alben. 

  • Das kann man so sagen. Aber ich wollte ja auch nie eine Liste der besten Alben aller Zeiten zusammenstellen. Manche Künstler finde ich zum Beispiel interessant und wichtig, weil sie aus einer Stadt kommen, die man allgemein nicht mit HipHop in Verbindung bringt. Oder aber die Umstände der Aufnahmen waren besonders, weil sie eben ganz anders waren als beim Rest. Ich bin nicht der Typ, der festlegt, welche Alben die wichtigsten aller Zeiten sind. Es wäre arrogant, das auch nur zu versuchen. Jeder kann für sich selbst entscheiden, welche Alben die wichtigsten sind. 

  • Haben alle Alben aus dem Buch etwas gemeinsam?

  • Ich bin mir nicht unbedingt sicher, ob das wirklich für jedes einzelne Album gilt – es sind mittlerweile 66 Stück –, aber ich glaube, dass alle von echten Innovatoren gemacht wurden. Echten Künstlern, die zwar von der Vergangenheit beeinflusst waren, aber der Kunst selbst eine ganz neue Facette gegeben haben. Jeder ist von dem, was es bereits gibt, beeinflusst. Diese Leute haben jedoch mit diesem Wissen und diesen Erkenntnissen etwas ganz Eigenes geschaffen. So haben sie das Genre immer weiter am Leben gehalten. 

  • Wie steht es um die Kunst der Liner Notes generell?

  • Prächtig. Tatsächlich wurden in den letzten 20 Jahren wegen der ganzen Deluxe-Re-Issues von Alben mehr und mehr Liner Notes verfasst. Zudem fallen mir in letzter Zeit immer mehr lange und umfassende Online-Artikel auf – sogar bei den Web-Magazinen, die echt scheiße sind. 

  • Seit einiger Zeit spricht man davon, dass das Konzept des Albums nicht mehr zeitgemäß ist. 

  • Ich glaube auch, dass der neuen Generation Alben nicht so wichtig sind. Sie kompilieren lieber ihre eigenen Alben mit einzelnen Songs, die ihnen gefallen. Die Produzenten und MCs selbst sind aber nach wie vor vernarrt in die Kunst, ganze Alben zu schaffen. Deswegen werden auch immer noch große Alben veröffentlicht. Diese Kreativen wissen, wie wichtig Alben sind, weil Alben die Kunst selbst weiter nach vorne bringen. Ich mache mir keine Sorgen über einen möglichen Untergang des Albums. Vielleicht werden weniger Alben verkauft, aber aussterben werden sie nie. 

  • »Ich werde mich hier nicht hinstellen und so tun, als fände ich 2014 ein besseres HipHop-Jahr als 1988.«Auf Twitter teilen
  • Bist du einer von der Früher-war-alles-besser-Fraktion? 

  • Ich bin zu 100 Prozent davon überzeugt, dass in den Jahren von 1986 bis 1996 mehr außergewöhnliche HipHop-Alben geschaffen wurden, als in den Jahren danach. Das war die Goldene Ära. Der Grund liegt, meines Erachtens, darin, dass irgendwann in den späten Neunzigern der wichtigste Anspruch, nämlich dope zu sein, ersetzt wurde von dem obersten Ziel, Platten zu verkaufen. Ab diesem Zeitpunkt konkurrierte man nicht mehr darum, der beste, sondern der erfolgreichste Künstler zu sein. Und darunter litt dann die Kunst. Da zitiere ich gerne El-P aus dem Company-Flow-Track »Vital Nerve«: »When sales control stats / I put no faith in the majority«. Dennoch gab es natürlich immer – und das bis heute – eine blühende Untergrund-Szene und Independent-Künstler, die sich an der Goldenen Ära orientiert haben. Ich werde mich also hier nicht hinstellen und so tun, als fände ich 2014 ein besseres HipHop-Jahr als 1988 – im HipHop gab es nie ein besseres Jahr als 1988. Aber es gibt ja Gott sei Dank auch immer noch genügend junge Leute, die gut sind. 

  • Es gibt sicher noch einige Alben, über die du unbedingt schreiben müsstest, oder?

  • Absolut. Aber die lassen mich, zumindest gerade noch, eher kalt. Außerdem hatte ich das Glück, über so viele großartige Alben zu schreiben, dass ich den anderen großartigen nicht hinterhertrauere.