ALL GOOD MIXTAPE:
»Osmose: German Psych Rock 1970-75«

Cover

Der klassische Weg des HipHop-Diggers geht von den Beats zu den Breaks, den Samplequellen aus Jazz, Funk und Soul. Dann kommen in aller Regel Soundtracks und Library-Platten, schließlich Psych-Rock und Ambient-Musik. Auf dieser letzten Stufe spielt der deutsche Underground der 1970er Jahre eine entscheidende Rolle. Deswegen lieben Madlib, Kanye West und Geoff Barrow ihren Krautrock. Und deswegen erlebt Krautrock in regelmäßigen Abständen eine Renaissance. Eine Einführung in das Genre von ALL GOOD-Autor Stephan Szillus, der seit 2014 mit dem Madlib-Manager Eothen »Egon« Alapatt an mehreren Krautrock-Re-Issues für Alapatts Now-Again-Label arbeitet.

 

 

01 Annexus Quam – Osmose I (Ohr, 1970)
Osmose heißt der Prozess in den Naturwissenschaften, wenn chemische Substanzen durch eine Membran diffundieren. Diese Band aus Kamp-Lintfort bei Düsseldorf versetzte psychedelischen Rock mit dem elektrischen Jazz von Miles Davis. Annexus Quam veröffentlichten über das Ohr-Label des exzentrischen Musikjournalisten und Konzertveranstalters Rolf-Ulrich Kaiser und spielten sogar live auf der Expo 70 in Japan.

02 Gila – Aggression (BASF, 1971)
Eine Stuttgarter Band um Wolfgang »Conny« Veit, die 1969 aus einer politischen Kommune geboren wurde. Bei Live-Auftritten spielten sie lieber 20-minütige Instrumental-Jams als echte Songs. Auf ihrem Debütalbum, das bei einem Label des Chemiekonzerns BASF erschien, orientierten Gila sich noch stark an Pink Floyd, doch das revolutionäre Potenzial der Gruppe ist bereits zu erahnen.

03 Agitation Free – Ala Tul (Vertigo, 1972)
1967 in Berlin gegründet, experimentierten Agitation Free bei ihren Konzerten im Zodiac-Club schon früh mit ausufernden Improvisationen und trippy Visuals. 1972 gingen sie mit dem Goethe-Institut auf Tour durch Ägypten, Libanon, Zypern und Griechenland. Die Eindrücke dieser Reise verarbeiteten sie auf ihrem Album »Malesch«, das Elemente traditioneller arabischer und nordafrikanischer Musik in den progressiven Rock integrierte.

04 Ibliss – Marga (Spiegelei, 1972)
Ibliss ist das arabische Wort für »teuflisch«. Diese Typen aus dem Rheinland hatten teilweise zuvor zum Kraftwerk-Vorgänger Organisation gehört, spielten nun jedoch sehr perkussiven, psychedelischen Jazzrock mit Nahost-Einschlag. Ihr einziges Album wurde 1972 vom legendären Krautrock-Produzenten Conny Plank in Hamburg aufgenommen.

05 Volker Kriegel – Zoom (MPS, 1971)
Vor 15 Jahren saß ich in der Ein-Zimmer-Wohnung meines damaligen besten Freundes in der Kölner Moltkestraße, direkt über dem Café Blu, aus dem wir uns permanenten Nachschub an Reissdorf-Kölsch besorgten. Wir pumpten Weather Report, »On The Corner« von Miles Davis, Herbie Hancock, Steve Kuhn – und Volker Kriegel. Der war einer der wichtigsten Protagonisten des deutschen Jazzrock und stammte aus der Frankfurter Szene. Mit dem Album »Spectrum« von 1971 gründete er seine gleichnamige Fusion-Formation.

06 Can – Vitamin C (United Artists, 1972)
Can gehören zu den wenigen Krautrock-Bands, die es zu größerer internationaler Anerkennung kamen. Sie waren aber auch außergewöhnlich gut. Ihr Ruhm bleibt bis heute ungebrochen: Kanye West samplete ihren »Sing Swan Song« für »Drunk And Hot Girls«, Earl Sweatshirt ihr »Soup« für »Centurion«, »Vitamin C« ist einer der Lieblingssongs von Flying Lotus.

07 Embryo – A Place To Go (Brain, 1973)
Ähnlich wie Agitation Free oder Ibliss durchsetzten Embryo ihren Sound mit allerlei traditionellen Elementen aus Nahost und dem arabischen Raum. »Steig aus« hieß eines ihrer besten Alben, und dieser Imperativ war genau so wörtlich zu verstehen wie dieser Songtitel: Max Weissenfeldt von den Poets of Rhythm stieg Anfang der nuller Jahre aus und bei Embryo ein — und reiste mit der Band im VW-Bus durch Europa und Afrika. Auch Madlib hat schon mit dem Münchner Kollektiv um den Bandleader Christian Burchard gejammt.

08 Paternoster – Old Danube (CBS Austria, 1972)
Speaking of Madlib: Ende 2014 kam es eher zufällig dazu, dass ich gemeinsam mit seinem Manager Eothen »Egon« Alapatt auf die Suche nach einer obskuren österreichischen Psych-Rock-Band ging, die nur ein einziges Album veröffentlicht hatte: Paternoster. Ich fand und traf den Bandleader Franz Wippel im Wiener Hotel am Brillantengrund, nun erscheint im April bei Now-Again eine offizielle Re-Issue dieses raren Meilensteins. »Old Danube« ist einer ihrer besten Songs, den Egon sogar jüngst in einem Boiler-Room-Set spielte.

09 Mythos – Mythoett (Ohr, 1972)
Egon schrieb kürzlich auch, Mythos würden so klingen, wie Jethro Tull hätten klingen können, hätten sie sich nicht immer so verdammt ernst genommen. Da ist was dran: Mythos aus Berlin waren beeinflusst von Pink Floyd, Ash Ra Tempel und Hawkwind, sie schrieben über Science Fiction und ökologische Themen, und doch klangen sie dabei stets spielerisch und selbstironisch. Zwei Jahre nach ihrem selbstbetitelten Album löste sich die Band leider auf.

10 Yatha Sidhra – A Meditation Mass, Part 2 (Brain, 1974)
Yatha Sidhra sind selbst eingefleischten Krautrock-Diggern oft kein Begriff. Kern der Band waren die Freiburger Brüder Klaus und Rolf Fichter, die Anfang der 1970er Jahre die Gruppe Brontosaurus gründeten und später in Yatha Sidhra umbenannten. Ihr einziges Album erschien bei Brain, bevor sich die Gruppe 1976 auflöste. Das Album, eine vierteilige Suite, ist tatsächlich so etwas wie eine Meditationsmesse und ein kleines psychedelisches Meisterwerk.

11 Exmagma – Dance Of The Crabs (Urus, 1975)
Exmagma waren ein Jazzrock-Trio aus Stuttgart mit einem amerikanischen Drummer. Zunächst nannten sie sich Magma, doch als sie herausfanden, dass es bereits eine französische Band gleichen Namens gab, tauften sie sich in Exmagma um. Ihr Sound war exzentrisch und kaum zu kategorisieren: Irgendwo zwischen Soft Machine und Miles Davis, zwischen Space-Rock und Jazz Fusion.

12 Joy Unlimited – Cinctura Virginae (BASF, 1975)
Aufmerksam wurde ich auf diese Band, weil Ghanaian Stallion ein Joy-Unlimited-Sample für Megalohs »Himmel berühren« benutzt hat. Nachdem Götz Gottschalk von Nesola das Sample gecleart hatte, sprach ich mit Roland Heck, dem Mastermind hinter der Mannheimer Band, über ihre Krautrock-Phase. Die virtuose Gruppe hatte sich an der Musikhochschule um die Blues-Sängerin Joy Fleming geschart, doch erst nach ihrem Ausstieg wurde es richtig spannend: Auf ihrem Meisterwerk »Minne« verbanden sie epischen Progrock mit Renaissance-Musik und Mittelalter-Lyrik.

13 Kraan – Prima Klima (Spiegelei, 1975)
Diesen Song habe ich wieder mal dank Madlib entdeckt: Er benutzte ihn auf einem »Medicine Show«-Mixtape und samplete ihn für das »Smoke Interlude« von der »Beat Konducta Vol. 6«. Kraan sind eine Jazzrock-Band aus Ulm, die in den 1970ern von Conny Plank produziert wurden, und genau wie Ibliss über das Intercord-Sublabel Spiegelei veröffentlichten.

14 Missus Beastly – Geisha (Nova, 1974)
Die Band aus Herford in Nordrhein-Westfalen reformierte sich zwischen 1968 und 1978 quasi permanent, die Besetzung änderte sich häufig. Ihr zweites Album wurde von Dieter Dierks produziert, der später mit den Scorpions zu Weltruhm kam: Funky Jazzrock, der vor allem dank der satten Dierks-Produktion seiner Zeit deutlich voraus war. Habe ich zum ersten Mal auf einem Rodinia-Mix von Jan Weissenfeldt gehört.

15 Dom – Dream (Melocord, 1972)
Ein mysteriöses Outfit aus Düsseldorf, das mit »Edge of Time« nur ein einziges Album veröffentlicht hat, und zwar als private Pressung. Dieses Album hat es jedoch in sich, denn es gehört zur experimentellsten Musik dieser Ära. Ein Interview mit dem Bandleader Gabor Baksay brachte vor einigen Jahren etwas Licht ins Dunkel. Ich habe auch schon versucht, Kontakt zu den ehemaligen Bandmitgliedern aufzunehmen – bislang ohne Erfolg…